Der Rausch
Film-Kritik von Yannic Niehr
Titel-Motiv: © Henrik Ohsten / Zentropa Entertainments
Einer geht noch …
Einmal wieder jung sein! Die langjährigen Freunde Martin (Mads Mikkelsen), Nikolaj (Magnus Millang), Peter (Lars Ranthe) und Tommy (Thomas Bo Larsen) sind allesamt Lehrer, und allesamt im besten Alter – doch werden sie das Gefühl nicht los, ihre guten Jahre bereits hinter sich zu haben. Sportlehrer Tommy, der nach außen einen so gefestigten Eindruck macht, hat außer seinem Hund Laban nichts und niemanden mehr. Musik- und Philosophielehrer Peter ist zwar bei seinen Schülern beliebt, doch stellt er sich die Frage, ob er die Chance auf Beziehung und Vaterschaft endgültig verpasst hat. Nikolaj, der Psychologie unterrichtet, hängt mit seiner Frau und drei kleinen Kindern im Hamsterrad des Alltagstrotts fest. Und in Martins Geschichtsunterricht hat sich – wie auch in sein restliches Leben – längst die Langeweile eingeschlichen. Seine mentale Abwesenheit und Interessenlosigkeit wird ihm von seinen zwei Söhnen mit gleicher Münze heimgezahlt, und auch in seiner Beziehung kriselt es unter der Oberfläche vor sich hin.
Als die vier gemeinsam Nikolajs 40. Geburtstag begehen, stellt dieser eine steile These in den Raum: Laut dem kontroversen norwegischen Psychiater Finn Skårderud würden Menschen mit etwa einem halben Promille zu wenig auf die Welt kommen. Schnell formt sich ein gewagter Plan: Die Freunde nehmen sich vor, der Theorie auf den Grund zu gehen und ihre Ergebnisse festzuhalten. Von nun an wollen sie versuchen, tagsüber einen Grundpegel von etwa 0,5 Promille Blutalkohol zu halten und erst ab 20 Uhr abends mit dem Trinken aufzuhören, um für den nächsten Tag fit im Kopf zu bleiben – so habe es auch Ernest Hemingway gehalten, und der hat immerhin einen Pulitzer und den Literatur-Nobelpreis gewonnen!
So abstrus die Idee auf dem Papier wirkt, so gut scheint es Martin und Co. Zunächst zu gehen: Sie fühlen sich vitaler, lockerer, ungehemmter – mit dem Alkoholpegel steigt gleichzeitig ihr Selbstvertrauen in lange verloren geglaubte Gefilde. Doch was als irres Experiment beginnt, soll schon sehr bald einmal ihr komplettes Leben durchspülen …
„Findest du, ich bin langweilig geworden?“
Regisseur Thomas Vinterberg ist kein Unbekannter: Seinen Durchbruch feierte er 1998 mit Das Fest, es folgten zahlreiche weitere Arbeiten. Sein Drama Die Kommune von 2016 lief auf der Berlinale, und Die Jagd (2013) wurde sogar für einen Oscar nominiert. Diesen zu gewinnen ist dem aktuellen Werk Der Rausch nunmehr gelungen, der 2021 als Bester Internationaler Film ausgezeichnet wurde. Während der Dreharbeiten hatte Vinterberg den tragischen Unfalltod seiner Tochter zu verkraften.
Die Themen Familie und Kontrollverlust spielen im Film eine wichtige Rolle. Zwar beruht die zentrale Prämisse auf einer (möglicherweise bewussten) Fehlinterpretation der Figuren von Skårderuds Aussage, sie dient aber als starker Aufhänger für eine feinsinnige, mit leisem Humor erzählte Tragikomödie, die neben der Academy of Motion Picture Arts and Sciences auch bereits das Publikum diverser Filmfestspiele (u.a. in Cannes) begeistern konnte.
„Ich trinke niemals vor dem Frühstück“ – Winston Churchill
Der Beginn des Films funktioniert als perfekte Einstimmung: Jugendliche Alkoholexzesse weichen mit einem harten Schnitt dem drögen Schulalltag der Protagonisten. Das pittoreske, dänische Kleinstadtidyll wird immer wieder dem bedrückenden und blutleeren Alltag der vier Freunde entgegengesetzt. Das nordische Flair der aufgeräumten Bildaufbauten ist angenehm zu betrachten, schafft jedoch auch ganz gezielt eine Art klinischer Distanz.
Emotionalität und Leidenschaft haben sich gerade aus Martins Leben scheinbar schon lange verabschiedet. Er hätte es einst weit bringen, in die Forschung gehen können. Jetzt ist er von Unzufriedenheit geplagt, fühlt sich praktisch mit einem Bein im Grab (passend untermalt wird dies vom morbiden Text einer kleinen Gesangstruppe, die während Nikolajs Geburtstagsfeier im Restaurant für musikalische Untermalung sorgt). Umso mehr geht er schließlich in der Veränderung auf, die ihm das Experiment bringt: Seine Schüler respektieren ihn und interessieren sich für seine Unterrichtsinhalte, und auch seiner Familie kommt er wieder näher. Erfrischenderweise verzichtet der Film, der inhaltlich zur trivialen Anti-Alkohol-Kampagne hätte verkommen können, auf Pauschalurteile. Trotzdem bleibt es nicht aus, dass implizite Konflikte aufgewühlt werden und mit Fortschreiten des Experiments alles den Bach runter geht …
Denn nach und nach verändern die vier die Parameter ihrer Studie – was in einem Vollrausch gipfelt, der unschöne Konsequenzen nach sich zieht. Danach können sie sich einer eingehenden und schmerzhaften Bestandsaufnahme ihres eigenen Lebens nicht länger entziehen. Doch wenn es sich auch nicht gerade um einen Gute-Laune-Film handelt, so gibt es doch Hoffnungsschimmer darin. Manchmal braucht es eben einfach nur einen Perspektivwechsel.
„Was ist die Jugend? Ein Traum. Was ist die Liebe? Der Inhalt des Traums.“ – Søren Kierkegaard
Für Der Rausch konnte Vinterberg einige bedeutsame und beliebte dänische Schauspieler gewinnen, von denen viele nicht zum ersten Mal für ihn vor der Kamera stehen. Magnus Millang hat sich bereits selbst als Regisseur und Drehbuchautor beweisen können und ist darüber hinaus als Comedian erfolgreich. Sein Timing macht die Figur Nikolaj zu einem stillen Favoriten. Lars Ranthe als Peter und Thomas Bo Larsen als Tommy gehen dabei etwas unter, gerade die Figurenzeichnung des Letzteren ist vergleichsweise diffus geraten. Beide können aber in der ein oder anderen gefühlvollen Szene glänzen und vor allem mit glaubhaftem, authentischem Spiel einen Eindruck hinterlassen. Maria Bonnevie als Martins Ehefrau Anika ist ebenfalls sehr gut besetzt, doch sind die weiblichen Charaktere klar auf den Status als Nebenfiguren verwiesen und unterstützen die Handlung eher, als sie zu tragen – dies bleibt den männlichen Protagonisten vorbehalten.
Allen voran liefert Mads Mikkelsen als Martin (in einer für ihn eher uncharakteristischen Rolle) eine gewohnt routinierte und gekonnte Leistung ab. Der smarte Däne hat sich längst als Hollywood-Schurke einen Namen gemacht. Hier passt er sich den leisen Tönen des Films an und verhilft seiner Figur im Zentrum des Films zu einem starken Porträt. In der Schlussszene darf er dann auch noch eindrucksvoll das Tanzbein schwingen. Unterstützt werden seine Kollegen und er von einem Ensemble sympathischer Jungschauspieler*innen, die die Schülerschaft bilden.
Etwas mehr Variation in der Kameraarbeit hätte dem Film gut getan (die mittlerweile zum Standard gewordene, unruhige Handheld-Kamera ist ausdrucksstärker, wenn man ihr auch weniger hektische Einstellungen entgegensetzt), sie bleibt aber immer nah an den Figuren und steht somit letztendlich stimmig im Dienste der Handlung. Der Schnitt gibt den einzelnen Schlüsselszenen nicht immer genug Raum, treibt das Geschehen aber durchgehend kurzweilig und dynamisch voran. Besonders effektiv ist eine ton- und farblose Zeitlupensequenz, welche den dramatischeren Teil des Films einläutet. Zusätzlich verleiht der Verzicht auf Filmmusik dem Film eine entschieden naturalistische Grundstimmung, die den diversen Themen wie Alkoholismus, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit zur organischen Entfaltung verhilft. Am besten ist der Film dort, wo seine formalen Stärken mit seinem inhaltlichen roten Faden zusammentreffen – nämlich mit der Frage: „Wie geht es weiter? Und wenn ja, wohin?“
Fazit
Man darf gespannt sein, wie Der Rausch sich in den deutschen Kinosälen schlagen wird (diese Besprechung basiert auf einer Sichtung des dänischen Originaltons mit Untertiteln). Es handelt sich zwar weder um einen Sommerblockbuster zum Abschalten, noch ist der Film ganz ohne Schwächen. Aber gerade nach über einem halben Jahr pandemiebedingten Kinostopps ist ein aus dem Leben gegriffener Stoff, der Komik wie Tragik des Älterwerdens tiefgründig beleuchtet (und ganz nebenbei gesellige Runden in gut gefüllten Restaurants zeigen darf) vielleicht genau das, was man als Filmfan braucht.
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Fotos: © Henrik Ohsten / Zentropa Entertainments
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