Wir beide

Film-Kritik von Yannic Niehr / Titel-Motiv: © Paprika Films

Si tu m’aimes …

Nina und Mado, Mado und Nina: Die zwei Frauen jenseits der 60 verbindet eine tiefe Freundschaft. Was außer ihnen aber niemand weiß: es geht sogar tiefer als das …

Madeleine „Mado“ Girard (Martine Chevallier) ist Witwe, hat aber eine sie liebende Familie. Trotz Spannungen mit dem Sohn, der ihr vorwirft, dass sie den Tod ihres Gatten kaum habe erwarten können, hat sie eine innige Beziehung zu ihrer Tochter und ihrem kleinen Enkelsohn. Doch es gibt noch eine weitere wichtige Person in Mados Leben: Nina Dorn (Barbara Sukowa), ihre Nachbarin von gegenüber. Tatsächlich sind die beiden bereits seit Jahrzehnten ein Paar. Doch trotz mehrfacher Versuche hat Mado es bislang nie übers Herz gebracht, sich ihrer Familie zu offenbaren - selbst dann nicht, als die Entscheidung im Raum steht, gemeinsam mit Nina nach Rom zu ziehen und dort einen Neuanfang zu wagen.

Dann jedoch kommt das Leben dazwischen: Mado erleidet einen Schlaganfall, kann zunächst nicht mehr sprechen und sich kaum bewegen. Die Familie steht unter Schock – genauso wie Nina. Doch für sie ist die Situation noch vertrackter – denn dass sie für Mado mehr war als bloß eine befreundete Nachbarin, ahnt ja nach wie vor keiner. Es wird eine Pflegerin eingestellt, die Mado von nun an in deren Wohnung betreuen soll. Hier wittert Nina eine Chance, und sie muss schließlich immer ausgefuchstere Mittel und Wege finden, Mado nahe sein zu können. Für ihre Liebe ist sie alles zu tun bereit …

Tu vivras avec moi …

Genretechnisch ist die internationale Ko-Produktion Wir beide nur schwer einzuordnen: Weder handelt es sich um eine existentielle Tragödie, noch um eine typisch locker-leichte Sommerkomödie mit Feelgood-Vibes. Vielmehr ist der Film eine Art Psychodrama, angesiedelt im Herbst des Lebens. Dabei schlägt die Handlung aber ständig Finte um Finte, sodass man sich in einem Moment in einer berührenden Liebesgeschichte wähnt, im nächsten in einer bitterbösen Groteske, und wieder im nächsten plötzlich in einem Kleinkrimi. So vermag der Film oft zu überraschen, spielt aber trotzdem geschickt auf der emotionalen Klaviatur. Die Zeichnung der Figuren gerät sowohl kurzweilig als auch einfühlsam, und immer wieder ist man auch zu Tränen gerührt.

Das Konstrukt der Handlung lässt es zu, dass beide Hauptdarstellerinnen die Möglichkeit haben, gleichermaßen zu glänzen. Anfangs steht Martine Chevalliers Mado im Vordergrund. Wir erfahren, dass sie sich immer hinten angestellt und ihre Wünsche dem untergeordnet hat, was von ihr erwartet wurde – nämlich, eine gute Hausfrau und Mutter zu sein. So erweckt sie einen oft leicht überforderten und kleinlauten Eindruck. Gleichzeitig steckt sie aber ganz offensichtlich voller Kraft und Leben – sie weiß, was sie will, und endlich möchte sie es sich auch nehmen. Die Darbietung ist erfrischend vielschichtig und subtil – auch dann noch, als Mado kaum noch etwas anderes zustande bringen kann als zu sitzen und vor sich hinzustarren. Dass sie trotzdem alles mitbekommt, vermittelt Chevallier mit ihrem wachen Blick virtuos, und auch danach darf sie noch unerwartet aufspielen.

Bedingt durch das einschneidende Ereignis des Schlaganfalls rückt aber für einen Großteil des Films zwangsläufig Barbara Sukowas Nina in den Vordergrund. Die Figur ist so deutschstämmig wie ihre Darstellerin, die u.a. bereits die berühmte Denkerin Hannah Arendt verkörpern durfte. Nina ist eine ehemalige Reiseführerin und Weltenbummlerin, die voller Tatendrang und Ideenreichtum steckt, mal zärtlich ist, dann wieder taff und knallhart. Dank Sukowas naturgegebenem, erdigem Glamour zeigen sich in ihrer Darstellung äußerst viele Facetten. Diese beiden schauspielerischen Höchstleistungen sind das klare Zentrum des Films, werden aber vom restlichen Ensemble gekonnt ergänzt, aus welchem vor allem Léa Drucker als Mados resolute Tochter, die schließlich der Wahrheit auf die Spur kommt, Augustin Reynes als sympathischer Enkel und Muriel Bénazéraf als etwas dusselige Pflegerin, die in eine aberwitzige Dynamik hineingezogen wird und sich mit Nina messen muss, hervorstechen.

La terre sera sans frontières …

Wir beide veranschaulicht sehr deutlich, was eine gut gemachte Eröffnungsszene bewirken kann, die einen verblüfft und sofort ins Geschehen hineinzieht. Die Symbolträchtigkeit dessen, was darin geschieht, wird selten, aber immer einmal wieder im Film aufgegriffen und bildet eine Art unbewussten roten Faden – hier geschieht vieles unter der Oberfläche. Der Sogwirkung dieses Prologs steht die visuelle Erzählung des weiteren Films in nichts nach: Die Bildsprache ist unaufgeregt und naturalistisch, aber so vielfältig wie die Handlung, wodurch sich eine ganze Palette an Stimmungen entfaltet – mal düster, mal melancholisch, mal sonnendurchflutet und heiter. Dies setzt sich auch in der unaufdringlichen Filmmusik fort, welche geschickt pianolastige Walzermelodien, wie man sie aus einem französischen Film erwarten würde, mit bedrückenden, sphärischen Klängen à la Hildur Guðnadóttir kombiniert. Ergänzt wird dies durch ein Sounddesign, das mittels cleverer Akzente die Macht des Schweigens hervorhebt. Die Schlussszene ist diesbezüglich besonders stark und rundet den Gesamteindruck ab.

Regisseur Filippo Meneghetti und seinem Team gelingt es, die scheinbar trivialsten Szenen mit Bedeutung aufzuladen, wodurch eine unterschwellige Spannung entsteht, die das Geschehen antreibt. Die gelegentlich absurden Episoden vermitteln einen leisen Humor, dennoch wird dabei die Tragik, die dem Ganzen innewohnt, nicht verdrängt. Gelegentlich hätte man wohl noch mehr den Dialogen überlassen können, denn ein stimmiges Bild der Charaktere und des Geschehens ergibt sich nicht in jeder Szene. Insgesamt aber sind Tempo und Fluss so gut, dass man durch die knackigen 95 Minuten fast hindurchsaust. Dass der Film trotzdem etwas schwer zu greifen ist, wird ihm allerdings sicher nicht jeder als Stärke auslegen.  

Fazit

Am Ende kann man diesem Film sicherlich einen Kommentar über Menschlichkeit, Würde und Selbstbestimmung abringen und – wenn man denn unbedingt wollte – vielleicht auch eine gewisse Kritik am modernen Pflegesystem. Gleichzeitig bietet er eine faszinierende und zugleich unterhaltsame Abhandlung darüber, wie sehr das Unausgesprochene unser Leben bestimmen kann. Vor allem anderen aber ist Wir beide eine Ode an die Hingabe – und das ist gerade in einem so ungewöhnlichen Sommer wie 2020 mehr als einen Blick wert.

Wir beide

  • Frankreich / Belgien / Luxemburg 2019
  • Paprika Films
  • WELTKINO Filmverleih
  • Regie: Filippo Meneghetti
  • Produzenten: Laurent Baujard, Pierre-Emmanuel Fleurantin, Elise André, Patrick Quinet, Stéphane Quinet, Donato Rotunno
  • Drehbuch: Filippo Meneghetti, Malysone Bovorasmy
  • Kamera: Aurélien Marra Musik: Michele Menini
  • Schnitt: Julia Maby, Ronan Tronchot
  • Darsteller: Barbara Sukowa, Martine Chevallier, Léa Drucker, Jérôme Varanfrain, Muriel Bénazéraf, Augustin Reynes, Hervé Sogne, Eugénie Anselin
  • Länge: 96 Minuten
  • Kinostart: 6.8.20

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