04.2014 Tim Krohn sprach mit Britta Höhne über die Kunst des Vergessens, darüber, eine Matratze zum Mittelpunkt eines Romanes zu machen, über einen Mann, der den Holocaust überlebt hat und sich selbst im Treibgut wieder erkennt und über die Vorteile von Zahnpulver. Außerdem erklärt der Schweizer Autor, was ihn derzeit beschäftigt: Sein einjähriges Kind und ein neues Buchprojekt.
Unterhosen wandern selten, Matratzen schon.
Belletristik-Couch:
Lieber Herr Krohn, zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie sich trotz Ihrer Hand-Operation zu diesem Interview bereit erklären. Wie geht es Ihnen denn?
Tim Krohn:
Danke, gut. Der Eingriff galt einer Familienkrankheit, ich bin froh, ihn hinter mir zu haben. Nur das Tippen will leider noch nicht so recht.
Belletristik-Couch:
Liest es sich in einem Matratzenladen besser, als etwa in einem Buchladen oder gar in einem Wohnzimmer?
Tim Krohn:
Ach, wo ich lese, ist mir nicht so wichtig. Mich interessiert die Begegnung mit den Menschen. Unangenehm sind Lesungen auf großen Theaterbühnen mit viel Scheinwerferlicht, weil ich da das Publikum oft gar nicht mehr sehe - dann wird es schwierig, einen herzlichen und unmittelbaren Kontakt aufzubauen.
Belletristik-Couch:
Was hat Sie dazu veranlasst, eine Matratze zur eigentlichen Protagonistin Ihrer Geschichte zu machen? Schließlich lassen Sie Herrn Wassermann sagen: "Es ist nur eine Matratze..."
Tim Krohn:
Matratzen sind der vielleicht intimste Alltagsgegenstand in unserem Leben, fast alles Wesentliche findet darauf statt, sie prägen nicht nur unseren Schlaf und damit unseren Alltag, sondern auch Liebe, Zeugung, Krankheit und Sterben. Und im Unterschied zu unseren anderen Privatissima geben wir sie dennoch weiter. Unterhosen wandern selten, Matratzen schon.
Belletristik-Couch:
In Ihrem viel zu kurzen Buch stecken viele kleine Spitzen: Hitler verpassen Sie den Beinamen "der Anstreicher", die Amerikaner erkennen während eines nächtlichen Bombardements die Landesgrenzen nicht und lassen ungeachtet jeglichen Grenzverlaufs ihre Waffen sprechen. Drei Kinder verlieren ihre Mutter, was mit einem, "es kann sich nur um einen Aprilscherz handeln" quittiert wird. Ist es Ihnen nur möglich, dem Grauen mit Humor zu begegnen? Geht das nicht auch anders?
Tim Krohn:
Die einen meiner Figuren begegnen dem Schicksal mit Humor, die anderen mit Trotz oder Melancholie, da ist jede Episode anders.
Belletristik-Couch:
1983. Katharina Kruse ist auf den Weg nach Rom. Mit Makrameebeutel und Zahnpulver. "Ungeküsst" sei sie, sagt ihre Mutter und irgendwie wohl auch gläubig: Das Grab Papst Paul des Sechsten steht auf ihrem Besucherplan. Ist das nicht etwas viel Klischee? Und wer bitte benutzte im Jahr 1983 noch Zahnpulver?
Tim Krohn:
Das ist ja das Eigenartige: Während wir uns in unserer Zeit bewegen, haben wir den Eindruck, sehr individuell und in unseren Entscheidungen auch sehr einsam zu sein, doch von oben betrachtet, oder eben im Querschnitt durch die Jahrzehnte, entdecken wir, wie konform wir doch in vielem waren. Unsere Sehnsüchte, Ängste und Geschmacksentscheidungen sind eben doch sehr zeitgebunden und wirken tatsächlich schnell einmal klischiert. Katharina Kruse ist eine Frau, wie ich in den Achtzigern einige kannte, tatsächlich bewegt sie sich in einem engen kulturellen Korsett. Was mich interessierte, war, wie sie selbst darin eine fast brachiale Lust entwickeln kann, sie fantasiert sich ja in eine sehr radikale Rolle als Weltenbefreierin. Und das Zahnpulver, liebe Frau Höhne, kann man selbst heute noch kaufen, im Handgebäck ist es leichter als eine Zahnpastatube, sehr zu empfehlen für Ihr nächstes Treckking-Abenteuer.
Belletristik-Couch:
Wer die unbekannte Liebe seines Lebens Desdemona nennt, scheint ein glückloser Narr zu sein! Hat Giaccomo Neri überlebt?
Tim Krohn:
Kaum.
Belletristik-Couch:
Worauf ich hinaus möchte ist, dass Sie Ihren Geschichten lediglich ein grob gefertigtes Gerüst verpassen, und es an dem Leser ist, es mit Leben zu füllen. Sie legen Fährten, schneiden an, hören auf, wenn es spannend wird. Gibt es zu der Episode des unglücklich verliebten Neris eine Weitererzählung in Ihrem Kopf? Oder sind die Geschichten in Sand geschrieben? Sie stehen auf dem Papier und sind gleichsam schon Geschichte.
Tim Krohn:
Sie finden in den folgenden Geschichten immer Spuren, aus denen Sie erahnen können, wie die vorherige weiterging, tatsächlich sind die Episoden recht vernetzt. Wenn Sie auf der Karte nachschauen, wo Giaccomo Neri Schiffbruch erlitt (vor Anzio) und wo die Matratze zwei Jahre später angespült wurde, können Sie erahnen, welchen Weg sie nahm ...
Belletristik-Couch:
Der Jude Wassermann nimmt Hitler nicht ernst. Kehrt zurück nach Berlin, dort trennt er sich von seiner Frau – oder besser wird getrennt. Die Ehe wird annulliert. Im letzten Kapitel ihres Romanes taucht er wieder auf. Die Matratze auch. Einem Märchen gleich. Glauben Sie an Wunder?
Tim Krohn:
Dass Immanuel Wassermann den Holocaust überlebt, ist tatsächlich ein kleines Wunder, allerdings sieht er sich selbst als beschädigten, unnützen Menschen. Und würde ihm eine erneute Begegnung mit der Matratze etwas Substantielles bringen, wäre das zweifellos zu viel des Guten. Doch mir war es wichtig, die Geschichte unserer Matratze nicht als eine Reihung von Zufällen zu beschreiben, sondern als einen Kreislauf alles Irdischen. Wir alle kehren irgendwann zu unserem Ursprung zurück. Immanuel Wassermann hat gemeinsam mit seiner Frau die Matratze "getauft" und er beerdigt sie schließlich, das schien mir nicht nur schlüssig, sondern auch nötig, um zu erzählen, was ich erzählen wollte: dass unser Leben oft so willkürlich und beliebig erscheint, doch aus höherer Warte erkennen wir immer wieder, dass jede Wendung auch Sinn machte.
Belletristik-Couch:
Die Menschen in Ihren acht Episoden sind allesamt Suchende. Jeder verfolgt einen Traum, oft wissend, dass der Traum eben nur ein Traum bleiben wird. Andere stumpfen ab, wie Immanuel Wassermann, der Treibgut sammelt, weil er sich darin zu erkennen glaubt. Mögen Sie keine glücklichen Menschen?
Tim Krohn:
Im Gegenteil erzählt jede dieser acht Geschichten von einem Glücksmoment. Glück ist eine flüchtige Sache, und die größte Kunst ist es, inmitten seines Unglücks und seiner Sorgen dafür bereit zu bleiben. Meine Figuren sind das - und wenn Sie Immanuel Wassermann einen abgestumpften Menschen nennen, tun Sie ihm damit sehr unrecht, denn er hat eine sehr verfeinerte Wahrnehmung. Er teilt nur andere Werte als vielleicht Sie und ich, er liebt das Unnütze, das Verschwendete und Aufgegebene. Aber in unserer materialistischen Welt mag man das tatsächlich als Abstumpfung empfinden.
Belletristik-Couch:
Eine Wassermann-Passage gefällt mir besonders gut: "Die Nutzlosigkeit des Alters hatte seinen Blick geweitet. So teilte er die Welt nicht mehr in Wesentliches und Bedeutungsloses ein, in seinen Augen war alles verschwendet, alles umsonst, nichts bleibt auf Dauer wesentlich." Nicht einmal Wassermanns junge Liebe von einst. Er erinnert sich nicht. Hält das Vergessen Menschen am Leben, gerade jene, die einen Krieg erlebt haben? Oder siegt hier die Freiheit des Autoren?
Tim Krohn:
Ihre Frage wäre Stoff für einen eigenen Roman, so einfach mag ich das gar nicht beantworten. Doch zweifellos sind Menschen, die das Vergessen beherrschen, begnadete Menschen.
Belletristik-Couch:
Sie zitieren Schiller, leihen sich Shakespeares Desdemona aus. Gibt es nichts Adäquates von heute? Philosophisches ist in der modernen Literatur immer alt. Liegt das vielleicht am Wandel der Sprache, des Lebens, der Orientierung?
Tim Krohn:
Ich erzähle von Menschen in verschiedenen Epochen. Jeder dieser Menschen hat sein eigenes Universum im Kopf, und aus dem zitiere ich. Unser kultureller Kanon reicht einige tausend Jahre zurück, und zumindest bis in die Sechziger prägte er auch unsere Alltagskultur. Wenn Giaccomo Neri übrigens Desdemona anruft, steht natürlich Verdis Oper Pate.
Belletristik-Couch:
Können Sie sich noch – befreit von allen Gedanken – ruhig auf Ihre Matratze legen?
Tim Krohn:
Von Ruhe kann derzeit keine Rede sein, wir haben ein einjähriges Kind, das bei uns schläft und uns den Schlaf raubt. Aber auch die Unruhe kann wunderbar sein.
Belletristik-Couch:
Herr Krohn, verraten Sie den Lesern der Belletristik-Couch, welcher Gegenstand des Alltags sich in kommenden Projekten in den Vordergrund schieben wird?
Tim Krohn:
Ein sehr verwandter. Die Nacht wird im Zentrum stehen - konkret die Nacht in einem Hotel in den Bündner Bergen. Die Nächte sind dort magisch und verwandeln die Menschen. Erzählte ich in "Aus dem Leben einer Matratze bester Machart" quer durchs zwanzigste Jahrhundert, werde ich in "Nachts in Vals" (das ist der Arbeitstitel) quer durch ein Menschenalter erzählen, vom Kleinkind bis zum Greis, anhand der Besucher dieses abgelegenen Hotels. Und soviel kann ich verraten: nicht alle werden die Zeit finden, sich auf einer Matratze zur Ruhe zu legen.
Belletristik-Couch:
Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, uns ein paar Fragen zu beantworten.
Das Interview führte Britta Höhne im April 2014.
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