05.2012 Der zwischen New York, Wien, Hamburg und den Bühnen der Welt wandernde Schauspieler, Dramatiker und Autor Klaus Pohl sprach mit Wolfgang Franßen über seinen neuen Roman Die Kinder der preußischen Wüste, über Genialität und Drogen, kulturelle Grabenkämpfe zwischen DDR und BRD und dass der Schriftsteller Thomas Brasch sein Leben lang auf der Flucht vor einem Vater und sich selbst war.
Thomas Brasch hätte Großartiges vollbracht
Belletristik-Couch:
Sind Sie eigentlich wahnsinnig?
Klaus Pohl:
Ja.
Belletristik-Couch:
Einen Roman über Thomas Brasch zu schreiben, und keine Biografie?
Klaus Pohl:
Es wäre Wahnsinn gewesen, die Biografie zu schreiben. Weil das Leben von Thomas Brasch gleichzeitig gedichtet werden muss. Wenn ich jetzt die Biografie geschrieben hätte, dann hätte ich mich so an bestimmte Fakten halten müssen, die die Figur eingesperrt hätten.
Belletristik-Couch:
Sie sind also mehr Schriftsteller als Biograf?
Klaus Pohl:
Ja sicher. Ich wüsste jetzt auch nicht genau, wo der Unterschied wirklich ist. Ich habe zum Beispiel ein paar Entscheidungen treffen müssen. Natürlich hätte ich das Ganze auch aus der Ich-Form schreiben und erzählen können, aber ich wollte das große Bild schreiben. Ich wollte durch die Familie von der Sanda Weigl, meiner Frau, die emigriert und in diesen Traum vom besseren Deutschland zurückgekehrt in die DDR ist, als großes, dramatisches Bild schreiben.
Belletristik-Couch:
Und gehen dann so weit und verfremden die realistischen Figuren noch, indem Sie ihnen andere Namen geben. Sie müssen ja teilweise mit einem Telefonbuch dagesessen haben und immer wieder neue Namen sich überlegt haben, um alles zu verschleiern.
Klaus Pohl:
Naja, verschleiern - "verschlüsseln" ist richtiger. Es war auch nicht so schwer. Ich habe ja bei der Verfilmung von "Vor den Vätern sterben die Söhne" Thomas gespielt und sein Name war dort Robert. Das kam auch von Bob Dylan, und das war dadurch vollkommen präsent. Dadurch, dass der Thomas beim Schreibprozess weggefallen ist, konnte ich bestimmte Dinge besser erzählen.
Belletristik-Couch:
An zwei Stellen habe ich gedacht, das ist ein sehr schöner Trick, den Sie da anwenden. Auf Flaubert zu kommen und das Zitat zu bringen, dass man seine eigene Lebenserinnerung bloß nicht aufschreiben soll und sich selbst in einen Roman über jemand anderen einzubringen, das ist doch schon ein kleiner Kunstgriff, oder?
Klaus Pohl:
Sicher, in diesem Roman wird die Geschichte von dem Thomas Brasch als Figur Robert Papst erzählt, der wiederum mit diesem Credo vom Flaubert sich selbst verbietet oder sich selbst entschuldigt dafür, dass er den Roman den Roman seiner Familie nicht schreibt. Das ist ein Irrgarten, aus dem man einfach nicht rauskommt. Und das wollte ich in dem Roman möglich machen. Sonst würde ich etwas anderes beschreiben, dann würde ich sagen: Ich schreibe eine Biografie.
Belletristik-Couch:
Ich glaube, dass der Verlag Ihnen einen Bärendienst erwiesen hat, indem sie hinten draufgeschrieben haben, dass es "der Roman ist, den Thomas Brasch hätte schreiben wollen, aber nicht geschrieben hat". Es gibt sicherlich den ein oder anderen Leser, der nach der Sprache von Thomas Brasch sucht. Dabei ist er ihr Roman ja völlig eigenständig.
Klaus Pohl:
Es war zwischen Thomas und mir ein immer fortwährendes Spiel. Wie geht man mit seiner eigenen Geschichte um, und wer schreibt die eigene Geschichte, und was ist die eigene Geschichte? Er meinte immer: Du musst meine Geschichte schreiben und ich schreibe Deine Geschichte.
Ich weiß nicht, ob das ein Bärendienst ist, wenn das hinten steht. Eher nicht. Ich glaube, es ist auch eine Provokation. Er hat diesen Roman nicht geschrieben. Zehn Tage vor seinem Tod hat er zu mir gesagt: Wenn ich hier noch mal rauskomme – als es darum ging, ob er eine Lungen- und eine Herztransplantation haben kann – dann würde er diese Geschichte schreiben wollen. Das kann verschieden Gründe haben. So nah am Abgrund, dass man das sagt. Ich weiß, dass ihn das immer beschäftigt hat. Er hatte dieses Stück Rotter geschrieben. Das sollte sein Vater sein. Diese Konstellation zwischen ihm und dem Vater, die ist doch eine ungeheuer dramatische. Ein "Stoff", unabhängig von der Frage, ob das jetzt biografisch ist oder nicht. Einer seiner Lieblingstexte als Vorbild war immer von Kafka der Brief an den Vater.
Belletristik-Couch:
Ich glaube auch, dass man Ihrem Roman sehr stark anmerkt, dass Sie mit verschiedenen Stilmitteln arbeiten. Vor allem beim Honecker-Gespräch mit Thomas Brasch, wo er ihn um seine Ausbürgerung bittet, kommt man sich wie in einem biedermeierlichen Ambiente vor. Wenn der Honecker den Brasch umarmt, menschelt es so richtig. Gleichzeitig haben wir auf der anderen Seite diese tiefe Tragik zwischen Sohn und Vater. Sie werden sicher aus Ihrem reichen Erfahrungsschatz vom Theater verschiedene Mittel angewandt haben?
Klaus Pohl:
Diese Begegnung hat ja so stattgefunden. Auch wenn man nicht weiß, ob da jedes Wort so gefallen ist. Der zentrale Punkt war, dass er von Honecker persönlich verabschiedet wurde. Dass es auch dieses Foto gibt, dieses Bild, wo er mit Honecker als Junge geht. Es gibt bei Honecker drei oder vier Tagebuchbemerkungen, wo er von dieser Zeit mit Thomas Brasch erzählt. Wie der immer am lautesten gerufen hat: "Ami go home", oder die Fahne geschwenkt hat.
Die Pointe dieser Szene ist, wo Honecker ihn fragt, ob die Zelle in Hohenschönhausen trocken ist. Sicher menschelt das. Aber worum es mir in der Szene auch ging, diese eigentlich einem den Atem verschlagende Situation von Diktatur im Gefängnis und dann die Freundschaftsebene, die es ja gab. Die vom Honecker zu dem dem stellvertretenden Minister und zu dessen Sohn. Das ganze war wie so eine Familienaffäre. Auch wie er dann fragt, ob er die Frauen mitnehmen kann, die Katharina Thalbach und ihre Tochter Anna. Er wollte noch Sanda Weigl mitnehmen, aber sagte dann, nicht noch eine.
Belletristik-Couch:
Sie musste noch länger warten.
Klaus Pohl:
Ja, sie musste dann länger warten.
Belletristik-Couch:
Ich sage "menscheln", weil es dann eine Tschechow-Szene ist. Diese Szene, die ja doch realistisch ist. Sie besitzt eine innere Komik. Wo man bei diesem strengen Stoff, bei dem Leben von Thomas Brasch völlig überrascht ist, dass man dann plötzlich an so einen Punkt kommt.
Klaus Pohl:
Auch bei der Beschäftigung mit anderen Stoffen ist das für mich eine ungeheure Erfahrung, dass das so nah beieinander ist. Bei dem, was Sie "menscheln" nennen, im Moment der Weltexplosion sozusagen, geht es nur darum, dass jemand der Schuh gedrückt wird oder dass die Frau in dem Moment falsch eingekauft hat. Ich wollte damit zeigen, dass dieser Abgrund dadurch noch viel, viel größer ist, über den auch der Thomas dort in der DDR gelaufen ist.
Belletristik-Couch:
Wenn man das so betrachtet, holen Sie geschichtliche Fakten und bringen sie ins Leben zurück. Indem Sie Geschichten davon erzählen. Und nicht welche Entscheidung das Politbüro fällt. Ein Vater verurteilt seinen Sohn dazu, ins Gefängnis zu kommen, wo er an Folter ausgesetzt ist.
Klaus Pohl:
Das ist bei allen so. Wir im Westen haben ähnliche Situationen gehabt. Bei den Terroristen. Viele der jungen Terroristen waren ja Leute, die mit ihren Opfern verwandt oder bekannt waren. Bei Ponto oder so. In der DDR ist das ja eine kleine Schicht gewesen, die die DDR sozusagen als Führungspersonal gemacht hat. Das waren einmal die Leute, die weg waren, die in Deutschland im Gefängnis waren, die im KZ waren, soweit sie das überlebt hatten, und die, die aus Russland zurückgekommen sind. Wie Ulbrich. Die ganze DDR kann man nur verstehen, wenn man kapiert, dass das wie eine große Familie ist, die zurückkommt und sagt: Jetzt machen wir das bessere Deutschland. Aber wie in dieser Kafka-Erzählung: Jetzt sind fünf beieinander und entscheiden, den sechsten wollen wir nicht dabei haben. Das sind die Englandheimkehrer, das sind die besseren, das sind die Russlandheimkehrer, die Moskauheimkehrer. Dadurch hat das Bedrohliche, so wie Sie ganz richtig sagen, eine "menschelnde" Seite, die sich auch sofort zur Anekdote eignet. Das ist ja eine wunderbare Anekdote, wenn einer sagt, in dem Staat hier habe ich im Knast gesessen und jetzt habe ich mit Honecker eine Tasse Tee getrunken und der sagt: Okay, du darfst gehen.
Belletristik-Couch:
Ja, oder umgekehrt beim Bayrischen Filmpreis, wenn Thomas Brasch sich bei der DDR bedankt.
Klaus Pohl:
Ich hab's grad noch mal gesehen. Vollkommen absurd. Erstmal hat er diese Ausbildung ja nie bekommen. Er ist zwar auf die Filmhochschule aufgenommen worden, aber er war nur eine kurze Zeit da. Auch nie als Filmemacher, sondern als Filmdramaturg. Thomas hat das nicht gesagt, um zu sagen, er habe dort Film studiert, sondern wegen der Provokation. Er wollte einfach der DDR für seine Ausbildung im weitesten Sinne des Wortes danken. Und außerdem kommt hinzu – und das unterschätzt man einfach – dass er nicht als Verräter der DDR dastehen wollte. Natürlich hat das Gewissen in ihm unheimlich gearbeitet. Dass er genau wusste, was diese ganze Aktion – Flugblätter verteilen, und, und, und – für Konsequenzen für die Karriere des Vaters hatte. Er hat ja quasi seinem Vater die Karriere zerknickt.
Belletristik-Couch:
Gerade bei dieser Flugblätter-Szene muss man automatisch an Sophie Scholl denken. Die Verklärung des Widerstandes gegen die Nazis, ein sehr essentielles Merkmal der Bundesrepublik ist, führt aber nicht dazu, dass eine solche Aktion in der DDR bei uns auf dem Schirm ist. Die DDR-Widerstandsgeschichte ist irgendwie in nichts aufgelöst worden. Es gibt keinen markanten Namen wie Sophie Scholl, wo man sagen kann, das ist aber ein Stück DDR-Geschichte, das bewahrt wird.
Klaus Pohl:
Naja, das wird über Biermann bewahrt. Wenn man so will: dieses berühmte Kölner Konzert 1976, wo er dann nicht mehr zurückkehren durfte. Biermann hat diesen ganzen Widerstand an sich auf sich vereinigt. Bei Thomas Brasch z.B. war es ein ganz großes Thema, sich davon abzugrenzen. Und dann kam eine andere Figur hinzu, Heiner Müller, der gesagt hat: Ich bin viel schlauer als ihr alle. Als permanenter Grenzgänger löse ich dieses deutsch-deutsche Problem. Der Widerstand der DDR ist, wenn man recherchiert, auf einer anderen Ebene geleistet worden. Die Autoren, ein Thomas Brasch oder auch ein Heiner Müller, haben sich ab einem Punkt dann auch korrumpierbar gezeigt.
Belletristik-Couch:
Heiner Müller hat den Staatspreis zum Beispiel angenommen.
Klaus Pohl:
Ja, oder auch mit der Stasi zusammengearbeitet und so weiter. Auch Thomas selbst. Zum Schluss in der Szene, in der er seinen Vater besucht, ist er immer tiefer in die schizophrene Situation hinein gekommen, dass er gesagt hat, die DDR sei das bessere System, aber er wolle da nicht leben. Das ist so etwas, was für mich in einer deutschen Tradition steht. Martin Heidecker hat gesagt: "Der Wegweiser muss den Weg nicht gehen." Also der Sozialismus war fürs Volk und die oben, die reisten, aber sagten, das ist für euch das bessere. Thomas bewegte sich auf so eine Schiene zu. Als er am Schluss seinem Vater begegnet und ihm sagt, dass er weiß, dass die DDR, der Sozialismus das bessere sei. Das habe ich jetzt begriffen. Das sagt er im Moment der Wiedervereinigung.
Belletristik-Couch:
Das ist sowieso ein interessanter Punkt bei diesem Buch, dieses Ost-West-Verhältnis. Ich habe mich manchmal gefragt – es steht außer Frage, dass Thomas Brasch ein ausgezeichneter Schriftsteller ist – ob er diesen raschen Erfolg gehabt hätte, wenn der Westen ihn nicht im Grunde als Beispiel gegen den Osten angeführt hätte, dass da die Kinder gefressen werden.
Klaus Pohl:
Man muss das ganze Bild sehen. Es gibt ja kaum eine für den Westen attraktivere Situation, als dass ein Ministersohn, jüdisch, Emigrant, also mit einer guten deutschen Biografie, der von der DDR weg geht und sagt: Hier kann ich nicht leben als Autor. Natürlich hat es das, was er geschrieben hat, sofort in ein ganz anderes Licht gestellt.
Das Komisch-Tragische bei Thomas war, dass er sich genau dagegen immer gewehrt hat. In dem Augenblick, wo die DDR sich auflöste, kämpfte er mehr mit dem Komplex, dass er nichts mehr zu erzählen hat, als mit der Wirklichkeit. Ich glaube eher, er fühlte auf einmal den Boden unter seinen Füßen verschwinden. Er konnte nicht mit diesem Sturz nicht umgehen.
Jetzt kam hinzu, dass er künstlerische Abstürze erlebt hatte. Mit dem letzten Film Der Passagier mit Tony Curtis, der unglaublich teuer ausgestattet war. Mit acht Millionen, das war ein Wahnsinnsgeld damals. Dieser Film wurde ein riesiger Flop. Thomas hatte sich dort sehr weit gegen über den Produzenten und den Fernsehanstalten, seinen Geldgebern gegenüber aus dem Fenster gelehnt Er hatte viele Leute unheimlich verschreckt. In seiner ruppigen und auch genialischen Art. Er stand auf einmal, auch was seinen Nimbus anging, vor einem ganz plötzlichen Nichts. Er musste erleben, dass in kürzester Zeit ihn kein Theater mehr wollte. Er hatte da noch seine Gedichte, die kurz Erfolg hatten. Dass plötzlich Unseld zu ihm sagte, bei Raddatz nachzulesen: Thomas, dich kennt keiner mehr. Das hat er in einer ganz rasanten Geschwindigkeit erleben müssen. Das ist für ihn unheimlich schwer gewesen. Das ist für jeden Künstler unheimlich schwer mitzubekommen, dass man sich für ihn nicht mehr interessiert.
Belletristik-Couch:
Könnte man sagen, was der Osten – also die DDR nicht geschafft hat – hat der Westen geschafft?
Klaus Pohl:
Wie, in welchem Sinne meinen Sie das?
Belletristik-Couch:
Thomas Brasch zu zerstören?
Klaus Pohl:
Ich würde sagen, das ist zu schwer zu beantworten. Wer hat ihn zerstört? Ich sage – so wie ich Thomas kenne – er hat sich selbst zerstört.
Ich habe das so ein bisschen als Motto aus seiner Shakespeare-Übersetzung von Richard II., wo er sagt, "Ich möchte alles los sein, ich werde erst Ruhe haben, wenn ich alles los bin, auch mich selbst". Das ist ja ein Motiv. Ich kann verstehen, was er meinte. Was er nicht loswerden kann, das ist sein Vater, seine Biografie. Die Biografie seines Vaters. Die Biografie seiner Mutter. Es ist seine Biografie, dass er rüberkommt. Das konnte er nicht loswerden. Nicht in Deutschland.
Ich finde nach wie vor, dass es nicht tollkühn ist, was dahinten auf dem Buch steht, und zwar deshalb: Er hat da was im Anfang ganz richtig gemacht. Er ist nach Amerika gefahren und hat ein grandioses Angebot gekriegt. So hat er es mir erzählt und so habe ich es auch in den Roman mit rein genommen. Das hat immer in ihm gearbeitet. Als die Möglichkeit. Dass Thomas Brasch bei seinem Talent und seiner Power sich von diesem Brutkasten, ob Westberlin oder Ostberlin, sich hätte lösen müssen und in diese große anonyme, kalte, brutale, aber auch ihn fordernde Welt New Yorks hätte gehen müssen. Er hätte sicher dort Grandioses gemacht. Wenn er sich mit der Stadt auseinandergesetzt hätte.
Woran Thomas kaputt gegangen ist, waren auf dem Konto diese komischen hunderttausend Mark. Westdeutsche Verwöhntheit, die da war. Man war der tolle Star. Im Gasthaus war man das enfant terrible. Man konnte die Leute schockieren. Man wurde hofiert. Man kann das an seinen Texten sehen. Die Zeit, wo er in der Fabrik gearbeitet hat, dort hat er diese Erzählungen geschrieben. Was Besseres hat er nie wieder geschrieben.
Wenn er sich dieser Auseinandersetzung in New York – und ich weiß, wovon ich rede – gestellt hätte, zu begreifen, von welcher Unwichtigkeit man ist, wie unwichtig auch das ist, was man schreibt, um zu dem Punkt zu kommen, wo es wichtig wird - das konnte er in Berlin nicht finden. Da konnte er mit seiner Wucht und seiner Energie und seiner Lebensleidenschaft nur in den Drogen enden, abwandern, oder abrutschen. Er hatte kein Gegenüber.
Belletristik-Couch:
Also kann man im Grunde sagen, wenn man einmal verloren gegangen ist, bekommt man sich nicht mehr zusammen?
Klaus Pohl:
Ja. Aber man müsste sagen, wenn man einmal weggegangen ist, dann muss man weitergehen.
Belletristik-Couch:
Mit "verloren gegangen" meine ich in sich verloren gegangen.
Klaus Pohl:
Über das In-sich-Verlorengehen habe ich viel nachgedacht, das ist ein langsamer Prozess. Weil er ständig sich wie aus einer Quelle speist. Aus dieser einen Möglichkeit, die große Auseinandersetzung, wenn die dir angeboten wird, und du sagst, ich mache die andere, dann trägst du jeden Tag etwas wie ein schlechtes Gewissen mit dir herum. Was weiß ich, wie ich das beschreiben soll.
Belletristik-Couch:
Als hätte man gekniffen.
Klaus Pohl:
Genauso. Das geht dann mal weg, das beschreibe ich ja in dem Roman, wenn er diesen Erfolg mit seinem ersten Film hat.
Dieser Erfolg scheint ihm alles zu bestätigen. Diese Entscheidung nicht nach Amerika zu gehen. Er wird jetzt Filmemacher. Er hat ja dann auch gesagt, eigentlich sei das sein Medium. Er wolle gar nicht mehr schreiben. Das fände er sowieso lächerlich. Ich weiß noch, wie wir da gedreht haben, wie er gesagt hat, jetzt sei der Schreibtisch vergessen. Das ist eine ganz andere Situation. In Kreuzberg auf der Straße, wo er dann hundert Statisten zu einem Überfall kommandieren musste.
Man kann sich vorstellen, was das mit einem Menschen macht. Er meinte, das sei der endgültige Abschiedsmoment zum Schreibtisch. Eine alte, verlorene Sache, die vorbei ist. Und dann entdeckt er, wie schnell sich so ein Erfolg, so eine Einladung, auch so eine Auflehnung wie Strauß in ein merkwürdiges alltagsgraues Nichts auflöst. Und wieder ist er mit dieser einen Frage zusammen: Wo bin ich eigentlich? Und wo bin ich hier?
Die Diskussion war mit Jurek Becker oder Peter Schneider oder mit Luc Bondi abends oft: Ist jetzt der Westen das bessere System oder die DDR? Diese vollkommen, abstrusen, absurden Fragen, weil es ganz klar war, dass die DDR das schlechtere System ist. Wenn man rüber gefahren ist, die Leute haben genauso viel gearbeitet, wie hier. Nur sie haben nichts dafür gekriegt. Jeder hat nur geschaut, Mensch könnt ich auch mal rüberfahren. Das ist ja auch norma. Für seine Position nahezu grotesk und absurd. Das ist es auch bei dieser Strauß-Verleihung. Da ist nur so toll, dass er den Mut hat, ihn auf das zu provozieren, dass der ganze Saal auf die bubenhafte, charmante Provokation reinfällt und alle schreien: "Dann geh doch wieder rüber." Aber in dem Sinne hat er da schon den Kern getroffen.
Belletristik-Couch:
Wir Leser sind ja Voyeure, wenn man weiß, wie viele Figuren wirklich hinter diesen Namen stecken, ist man auf der Suche nach, wer ist der Lieblingsschauspieler, wer ist was? Ein Leser, der jetzt keine Ahnung hat von Thomas Brasch, was meinen Sie, was der mit dieser Geschichte anfängt?
Klaus Pohl:
Ich habe viel gelesen, also z.B. in Hamburg Lesungen gehabt. Thomas Brasch ist den Leuten nicht mehr geläufig. Auch bei diesem Roman ist das für den, der das Buch kauft, auch nicht der ausschlaggebende Moment, dass das über Thomas Brasch geht. Bei Lesungen habe ich gemerkt, dass es für die Zuhörer eine erschütternde Vater-Sohn-Geschichte ist. Eine erschütternde Familiengeschichte auch. Die erschütternde Geschichte eines Menschen, der sich sucht und verliert. Das ist das, was den Leser fasziniert. Speziell vor dieser historischen Kulisse, in dieser historischen Situation, wo ein Vater da ist, der kein Arschloch ist. Das ist ja auch ein Vater, der sagt, ich hab eine tolle Firma, nun mach das, und der Sohn sagt, ich mache deine Firma nicht, ich mache was anderes. In diesem Fall ist es doch so, dass er einen Vater hat, der vor den Nazis weggegangen ist und der zurückkommt. Mit einem hochidealistischen Anspruch. Der dann zu einem anderen wird. Erst einmal ein anderes, ein besseres, ein neues Deutschland zu bauen. Auch für das, was war, zu büßen und Neues zu schaffen.
Belletristik-Couch:
Für mich ist es ein Künstlerroman, der zeigt, dass Schriftsteller aus dem Westen und Osten eigentlich einen gemeinsamen Boden haben, obwohl sie in so unterschiedlichen Systemen aufwachsen. Es ist gleichzeitig, eine Mischung aus verschiedenen Stilen. Wenn man z.B. da die westdeutsche Journalistin sieht, die durch die Mauer schlüpft und sich die Liebesdienste des Thomas Brasch damit erkauft, dass sie ihm ein westdeutsches Magazin und verbotene Literatur mitbringt, ist das ja schon fast eine Farce.
Klaus Pohl:
Ja. Stimmt, in dem Sinne, dass das Leben, oder sagen wir das Material dieses Romanes alle Stile mischt. Ich wäre mir lächerlich vorgekommen, wenn man es darauf reduziert: Ich mache mich damit nicht schmutzig. Mich interessiert immer mehr an dem Buch – jetzt sehe ich es ja auch mit mehr Abstand – dass es sich nicht scheut, durch all diese Verwerfungen, Pfützen, Urbüsche zu laufen, zu schleichen, zu kriechen oder zu jubeln, um irgendeiner Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Belletristik-Couch:
Sie stoppen Ihren Erzählfluss ein Mal oder zwei, drei Mal. Wenn die Geschichte des Professors, der Nora Meinl kommt, dann ist man erstmal erstaunt, weil es ist ja nun am Anfang nur ein Nebenerzählfluss da, der sich erst hinten wieder zusammensetzt. Aber das ist der Moment, glaube ich, wo Sie in dieses Buch hinein einen Spiegel setzen.
Klaus Pohl:
Ja. Wahrscheinlich muss ich sagen, würde ich heute mit dem Abstand zum fertigen Buch sagen, nicht ganz geglückt, das ist nicht ganz aufgegangen. Diese Ankunft der Familie, das ist ja mein Schwiegervater sozusagen. Auch diese merkwürdige Geschichte, dass ein Mann Deutschland verlässt, genau drei Tage vor dem Mauerbau zurückkommt und wieder eingesperrt wird. Auf eine viel schlimmere Weise. Das sprengt den Roman eigentlich ein bisschen, weil das in sich schon so ein Wahnsinnsmoment ist. Dann treffen sich die beiden auch noch. Vielleicht ist das eine Stelle im Roman, die ich nicht gelöst habe. Das kann sein. Man kann diesen Strang da hinein bringen. Sicher wäre es für den Fluss besser gewesen, wenn ich immer an der Thomas-Brasch-Geschichte geblieben wäre, und das Mädchen, die Sanda Weigl, später rein gesetzt hätte.
Belletristik-Couch:
Alles ist in der Literatur erlaubt, es darf nur nicht langweilig sein. Und langweilig ist der Roman nun wirklich nicht. Als letztes müssen wir natürlich noch ein Thema besprechen, und das sind die Frauen.
Klaus Pohl:
Ja.
Belletristik-Couch:
Die Frauen in diesem Roman sind ja, bis auf die Mutter Braschs, die zerbricht, Musen. Richtige Musen, die den Männern das Leben erleichtern, sie bereichern und sie stützen. Bricht eine weg, oder zwei, wie in Thomas Braschs Fall, bricht sofort der ganze Mann zusammen.
Klaus Pohl:
Ja.
Belletristik-Couch:
Ist Klaus Pohl als Schriftsteller ein Romantiker?
Klaus Pohl:
Sicher bin ich ein Romantiker. Auf jeden Fall. Ich komme aus Rothenburg o.d. Tauber. Eigentlich sehe ich das mit den Musen weniger romantisch, sondern bestialisch. Es ist meine Frau, Sanda Weigl, aber auch diese Art von sich aufgebender Liebe, die sie in dieser Phase zu Thomas hatte. Wenn er schrieb, auch später noch, als sie im Westen waren. Hat für mich überhaupt nichts Romantisches, sondern etwas Bestialisches.
Man gibt ein Stück Leben für etwas auf, was vielleicht in Jugend begründet ist - es ist ganz schwer zu beschreiben, was es ist. Es ist aber auf keinen Fall romantisch. Es sieht romantisch aus. Es ist auch masochistisch, vielleicht ein Irrtum, ganz einfach gesprochen. Ich habe das immer wieder erlebt. Z.B. im Theater, oder wenn ich einen Schauspieler oder einen Autor verehre, vergesse ich mich ziemlich schnell.
Ich finde das Verehren, jemanden zu unterstützen, eine grandiose Sache. Ich gebe mal ein Beispiel: Mit Peter Zadek hatte ich so ein Verhältnis. Ich liebte, wie er inszenierte. Ich mied ihn aber immer, weil ich wusste, dann verschlingt er einen. Irgendwann war es dann doch so, dass er sagte, machen wir ein Drehbuch über Heine und das machen wir zusammen. Ich war ihm verfallen, aber dann kam der Punkt, wo er sagte, ich müsse jetzt nur noch für ihn arbeiten. Da habe ich den Bogen gekriegt und abgelehnt. Das ist ein harter Moment, wo man das sagt. Hart, nicht zu ihm, denn man möchte ja gerne der Eckermann sein. Das ist eine schöne Rolle. Man ist geborgen, und man hat das Gefühl von Wichtigkeit und Zusammengehörigkeit und von Kreativität. Aber es hat mit einem Verrat des eigenen zu tun. Gleichzeitig glaube ich gar nicht so sehr an das eigene. In dem Sinne ist es masochistisch, auch verlogen, ein Fluchtversuch. Man kommt schließlich an der Stelle mit sich raus: "Was ist jetzt gewesen, was habe ich gemacht?"
Belletristik-Couch:
Sie erzählen ja teilweise auch sehr ungefiltert. Als Schauspieler und als Theaterregisseur sind Sie es ja gewohnt, in Rollen zu schlüpfen. Ich stelle es mir höchst interessant vor, in die eigene Rolle zu schlüpfen. So nah bei der Wahrheit zu bleiben und eine Szene zu schreiben, die voller Eifersucht ist, und da auch nicht vor zurückzuschrecken.
Klaus Pohl:
Ich hatte in meinem Leben, das ich geführt habe, mit Thomas und meiner Frau, aber auch mit mir selber, genügend Gelegenheit über die Frage nachzudenken. Was bedeutet das für mich und wovor würde ich, wenn ich zurückschrecken würde, zurückschrecken? Und schließlich fand ich das eher interessant, in das Erzählerische hinein zu springen und mich dabei zu beobachten. Wo ich den Versuch unternehme, was zu schönen.
Natürlich habe ich mich ein bisschen gerettet. In dem Sinne, dass ich mich auch in der Rolle finde, in so einem Schwanken zwischen dem noch Unbekannten. Auch den Clown, ein bisschen den Frechdachs gebe.
Ich bin ja gelernter Gemüsehändler. In Bayern aufgewachsen. Ich habe im Grunde das genau Umgekehrte von dem erlebt, was Thomas Brasch und Sanda Weigl in der DDR erlebt haben. In Bayern war zu der Zeit die kommunistische Partei verboten. Ich war ja Gemüsehändler und regte mich wahnsinnig über den Vietnamkrieg auf. Es gab eine Art Parteiersatzorganisation, die nannte sich ADF. Aktion demokratische Fortschritt. Als jetzt dieser Einmarsch war in Prag, da schrieb ein Pfarrer im Rothenburger Stadtanzeiger, jetzt könne man sehen, was die Russen, also die Sowjetunion, für ein Reich der Tiere sei. Wirklich so hat er das geschrieben. In Franken. Daraufhin habe ich dann – 1968 war ich 16 Jahre alt – einen Leserbrief geschrieben, der in so einer Kleinstadt ein großes Aufsehen sorgte. Wo jeder sagte, das hat doch niemals dieser Gemüsejunge geschrieben, das hat wahrscheinlich sein Vater aus Breslau geschrieben. Dort habe ich geschrieben, dass man sehen müsse, dass das größere Tier auf der anderen Seite in Vietnam wütet. Ich habe mich also eigentlich auf die verteidigende Position begeben.
Im Unterschied zu meiner Frau und Thomas Brasch. Man müsste, wenn man so was schreibt, in dieser Drastik über den Vietnamkrieg schreiben und was dort passiert. Insofern habe ich eine ganz andere Position eingenommen und habe auch die Konsequenzen dann erlebt. Im Gemüseladen haben die Leute dann gesagt: Von einem Kommunisten lassen wir uns nicht bedienen. Dann wurde ich also erstmal für eine längere Zeit ins Lager abgeschoben. Also ich habe ich eigentlich das Umgekehrte erlebt.
Belletristik-Couch:
Herr Klaus Pohl, ich danke Ihnen herzlich für dieses interessante Gespräch.
Das Interview führte Wolfgang Franßen im April 2012.
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