08.2013 Der Schweizer Autor legt mit Gleis 4 eine feine Geschichte mit traurigem Anfang vor. Wir haben Franz Hohler bei seinem Urlaub in den Bündner Bergen gestört, um ihm ein paar Fragen zu stellen.
Ich musste die Geschichte auch mir selbst erzählen.
Belletristik-Couch:
Lieber Herr Hohler, zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, mir ein paar Fragen zu beantworten.
Ich habe Ihr Buch "Gleis 4" gelesen und bin gleichermaßen betroffen und begeistert. So unwahrscheinlich nämlich ist es nicht, in eine Situation wie ihre Protagonistin, die Pflegefachfrau Isabelle Rast, zu geraten. Was hat Sie bewogen, inspiriert, einen derartigen Plot zu konstruieren?
Franz Hohler:
Ausgangspunkt war die Szene am Bahnhof, die mir so lange immer wieder in den Sinn kam, bis ich mich entschloss, die Geschichte zu schreiben, die dahinter stecken musste. Was das für eine Geschichte war, wusste ich auch nicht, ich musste sie also auch mir selbst erzählen.
Belletristik-Couch:
Sie sind gerade 70 Jahre alt geworden. Ist das Thema Alter und Tod vielleicht aus diesem Grund präsenter, als noch vor 20 Jahren?
Franz Hohler:
Eigentlich hab ich mich auch früher schon oft mit dem Tod beschäftigt. In meinem Gedichtband Vom richtigen Gebrauch der Zeit steht das Gedicht "Signal", das auf Anhieb wie ein Altersgedicht angesichts des Todes aussieht. Geschrieben hab ich es aber mit 20.
Belletristik-Couch:
Wie viel Hohler steckt in "Gleis 4"?
Franz Hohler:
Sehr viel, hoffe ich.
Belletristik-Couch:
Sie sprechen von "alter Schule", einem galanten Herren, der einer Frau auf dem Bahnhof den Koffer trägt. Etwas, was Frauen – trotz oder wegen aller Emanzipation – doch gerne in Anspruch nehmen und genießen. Hätten Sie gerne etwas mehr "alte Schule" in unsere Gesellschaft?
Franz Hohler:
Ich praktiziere sie jedenfalls und stelle fest, dass Frauen sich meistens freuen, wenn man ihnen z.B. beim Ein- oder Aussteigen den Vortritt lässt, während Männer eher erstaunt sind.
Belletristik-Couch:
In Ihrem Roman fließen viele Aspekte ein: Ausländerfeindlichkeit zum Beispiel. Sarahs Vater stammt aus Afrika, Sarahs Eltern sind getrennt und die junge Frau lässt kein gutes Haar an den Männern? Geht das Verschwinden des Vaters mit ihrem Männergroll konform? Ist sie enttäuscht – wohl zu recht – und projiziert ihre Wut auf alle Männer?
Franz Hohler:
Jedenfalls konnte sie mit ihrem eigenen Vater keine gute Erfahrung machen, weil sie ihn gar nicht kannte. Und ein grundsätzlicher Ärger darüber, dass etwa die Welt der Gesetze, die sie an der Universität studiert, von Männern gemacht wurde, scheint mir nicht weit hergeholt.
Belletristik-Couch:
Sie selbst sind Schweizer, leben in der Schweiz, in Biel, in einer Region, in der sich Schweizerdeutsch und Französisch mischen. Ihrem Roman entnehme ich, dass Sie der Schweiz nicht durchgehend wohlgesinnt sind. Sie prangern etwa die Sauberkeit an, Rassismus, die Politik. Ist das eine Abrechnung mit Ihrer Heimat? Eine, die etwa Max Frisch bis auf die Spitze getrieben hat? Er war bekannt für seine Wut auf die Eidgenossenschaft.
Franz Hohler:
Ich bin zwar nur in Biel geboren und lebe schon lange in Zürich. Die Schweiz hab ich sehr gern, deshalb kritisiere ich sie auch dort, wo sie sich anders verhält, als ich es von ihr erwarte.
Belletristik-Couch:
Ihr Seitenhieb in Richtung "Gerichtsverhandlung wegen eines Milliardenkonkurses, eine der größten Pensionskassen auf Schleuderkurs", ist hochaktuell. Zwar betrifft es Bankgeschäfte, nicht die Pensionskasse, aber machen Sie sich dennoch Sorgen? Oder geht Ihnen das ständige Gerede ums Geld schlicht auf die Nerven?
Franz Hohler:
Bei den Banken hab ich oft das Gefühl, sie hätten aus der ganzen Krise nichts gelernt. Sehr viele Leute sind um ihre Anlagen schlicht betrogen worden, und alles geht weiter, als ob nichts gewesen wäre: Business as usual. Übrigens werden auch bei unsern Pensionskassen regelmässig Unregelmässigkeiten aufgedeckt, bis hin zu schweren Betrugsfällen. Grosse Geldmengen sind eben auch eine Versuchung für uns kleine Menschen.
Belletristik-Couch:
Herr Hohler, keine Frau trinkt Verveine-Tee mit Zucker. Eine - die sich zu dick fühlt - schon gleich gar nicht. Aber Isabelle. Männer sprechen auch keine Frau an und fragen: "Darf ich Ihnen den Koffer tragen?" In welcher Zeit spielt "Gleis 4"? Im Heute? In einem Wunsch-Heute?
Franz Hohler:
Isabelle wirft ihren Zucker in einem Zustand der Ratlosigkeit und Verwirrung ein. Und Martin fragt ja, wie man erst gegen Schluss erfährt, Isabelle nicht zufällig und aus Galanterie, sondern weil er etwas von ihr will und auf diese Art mit ihr in Kontakt zu kommen hofft.
Belletristik-Couch:
Der Schweizer Marcel, der zum Kanadier Martin wird, sorgt mit seiner Geschichte für Furore. Ein wenig erinnert mich Ihre Handlung an Saramagos "Alle Namen". Darin verfolgt der Archivar Sr. Jose die Geschichte einer Frau an Hand einer Dateikarte. Was interessiert Menschen so sehr am Schicksal anderer, dass sie wie bei Saramago, oder wie Isabelle, derart viel Mühe auf sich nehmen, um einem "Geheimnis" auf die Spur zu kommen?
Franz Hohler:
Wer das Leben eines andern erforscht, erforscht immer auch sein eigenes. Er erfährt in der Geschichte des andern auch etwas über sich selbst.
Belletristik-Couch:
Marcel, alias Martin, kommt zum Ende des Buches noch einmal zu Wort. Im Epilog erfährt der Leser die wahre Geschichte des geheimnisvollen Mannes. Martin hat etwas wie ein Tagebuch verfasst und klärt auf. Mögen Sie keine offenen Enden – oder solche mit schlechtem Ausgang?
Franz Hohler:
Doch - lesen Sie meinen Roman "Es klopft".
Belletristik-Couch:
Sie gehen jetzt auf Lesereise, unermüdlich wie es scheint. Haben Sie schon eine neue Geschichte in Ihrem Kopf? Verraten Sie mir Ihr neuestes Projekt? Ich bin sicher, da gibt es eines, wenn nicht mehrere!
Franz Hohler:
Ich habe eine Erzählung für Kinder angefangen und hoffe, dass ich sie auch zu Ende bringe.
Belletristik-Couch:
Herr Hohler, vielen herzlichen Dank.
Das Interview führte Britta Höhne im August 2013.
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