Susanne Matthiessen
10.2020 Kirsten Kohlbrei im Gespräch mit Susanne Matthiessen, Autorin von "Ozelot und Friesennerz".
"Diese Wochen, in denen Sylt ohne Gäste war, haben in den Köpfen der Insulaner viel verändert. Diese Stille. Diese Entschleunigung. Diese Weite. Diese Natur. Die Sylterinnen und Sylter haben ihre Insel neu entdeckt und wiederentdeckt. Das war schon überwältigend. Es war auch eine Zeit der Bewusstwerdung. Und dann kam mein Buch und setzte quasi auf dieses Gefühl noch einen drauf."
Belletristik-Couch.de:
Sie sind als Journalistin vor allem im Verfassen kürzerer Texte geübt und haben nun ihre Kindheitserinnerungen in Buchform veröffentlicht. Wie kam es zu diesem Entschluss? Und wie sind Sie dabei mit der Umstellung auf das epische Schreiben zu Recht gekommen?
Susanne Matthiessen:
Schon als Kind wollte ich Schriftstellerin werden. Fanden meine Eltern aber nicht so gut und meinten, ich solle doch erstmal einen vernünftigen Beruf lernen. Folgsam wie ich war, entschied ich mich für etwas Verwandtes und wurde Journalistin. Nach mehr als 30 erfolgreichen Berufsjahren im Redakteursberuf hatte ich dann das Bedürfnis, meine ursprünglichen Pläne in die Tat umzusetzen und nahm mir dieses Projekt vor. Was auch damit zu tun hatte, dass meine Eltern krank wurden und ich Angst bekam, sie könnten sterben, bevor ich alles von ihnen weiß.
Und richtig episch schreiben kann ich nicht. Im Grunde ist mein Buch eine Aneinanderreihung von kürzeren Texten. 20 Schreibmaschinenseiten, die sich am Stück gut lesen, bekomme ich hin. Deshalb sieht mein Buch so aus.
Belletristik-Couch.de:
Der Untertitel Roman einer Sylter Kindheit ruft die Fiktion ihres Buches in Erinnerung. Aus welchem Grund haben Sie die Romanform gewählt und nicht eine rein autobiographische Darstellung?
Susanne Matthiessen:
Ich habe einfach meine eigene Form gewählt und so geschrieben, wie ich es wollte. Ohne Einflussnahme von außen. Der Verlag hat dann „Roman“ draufgeschrieben. Was dieser Text eigentlich gar nicht ist.
Belletristik-Couch.de:
Ihr Roman basiert auf wahren Begebenheiten und Sie nennen die Namen beteiligter Personen.Haben Sie diese darauf vorbereitet oder sich im Vorfeld gar das Einverständnis geholt? Wie war bei dieser Gruppe die Resonanz auf die fertige Arbeit?
Susanne Matthiessen:
Jedes Mal, wenn ich nach Hause gekommen bin, habe ich Sylter Leute besucht und ihnen meine Texte vorgelesen. Jedenfalls die Passagen, in denen sie vorkommen. Ich habe mir das Einverständnis besorgt. Manche wollten auch etwas geändert haben. Auch meine Eltern konnten nicht mit allem leben, was ich geschrieben hatte. Sylt ist ein Dorf. Die Bevölkerung ist eine Familie. Da muss man schon ein bisschen Rücksicht nehmen. Aber nicht zu viel.
Das Buch wurde dann mit Spannung erwartet. Die Sylterinnen und Sylter mussten dann auch noch drei Monate länger warten, weil es zum Corona-Stillstand kam und nicht mal mehr die Buchhandlungen geöffnet waren. Da stieg dann die Spannung. Als es rauskam, war es auf Sylt sofort ausverkauft. Und die Leute riefen mich und meine Eltern zu Hause an und sagten: Super getroffen. Alles echt.
Belletristik-Couch.de:
Die elterliche Pelzhandlung hat den Alltag Ihrer Kinderjahre bestimmt und spielt auch in Ihrem Roman eine entscheidende Rolle. Persönlich sind Sie nie in das Geschäft eingestiegen und auch bei Ihrer Darstellung bewahren Sie eine gewisse Distanz. Wie haben Sie die Entwicklung für Ihre Familie erlebt, als die Pelzmode zunehmend in Kritik geriet?
Susanne Matthiessen:
Es wurde weniger. Und es wurde nicht drüber gesprochen. Meine Eltern haben dann anstandstechnisch pünktlich zur offiziellen Rente mit 65 Jahren das Geschäft zugemacht, nachdem mein Vater noch eine längere Zeit vorher versucht hat, Interessenten zu finden, Fachleute, die die Firma hätte weiterführen können. Hat sich aber keiner zugetraut. Was ich verstehe. Der Laden stand und fiel mit meinen Eltern. Ein People´s Business.
Belletristik-Couch.de:
Sie erzählen sehr offen auch von Momenten der Einsamkeit und Unsicherheit, in denen die Nähe einer Bezugsperson fehlte, da das Geschäft die Eltern völlig vereinnahmte. Haben Sie solche Dinge in der Familie schon zuvor besprochen oder ist Ihr Buch an diesem Punkt ein Stück weit auch Vergangenheitsbewältigung?
Susanne Matthiessen:
In diesem Punkt ist das Buch sicherlich Vergangenheitsbewältigung – stellvertretend für meine Generation damals auf der Insel. Und dieses Buch ist das letzte Gesprächsangebot an meine Eltern nach unzähligen Versuchen, auf mich und diese Situation aufmerksam zu machen. Sie haben es allerdings nicht angenommen. In den Augen meiner Eltern bin und bleibe ich einfach „ein schwieriges Kind“. Und das mit dem Buch, naja. „Schön geschrieben“, sagen beide, obwohl meine Mutter einfach nicht dazu kommt, es zu lesen.
Belletristik-Couch.de:
Ihre Erzählung liest sich auch als eine Zustandsbeschreibung der BRD in den Siebzigerjahren. Sie fangen dabei sehr schön diese Atmosphäre des ausufernden Lebensstils und der sexuellen Freizügigkeit ein, für die Sylt in dieser Zeit mit seinen prominenten Gästen mitunter stand. Wie haben Sie diese Menschen erlebt und hat diese frühe Weltläufigkeit Sie für später geprägt?
Susanne Matthiessen:
Dass wir mit diesen verrückten Menschen zu tun hatten, war für uns Alltag. Wir dachten, die ganze Welt ist so. Unsere Eltern haben sich in dieser Szene ganz selbstverständlich bewegt. Und wir natürlich auch. Das hat mir in meinem Beruf später sehr geholfen. Als Redaktionsleiterin von politischen Talkshows mit vielen hochprominenten Gästen habe ich immer gewusst: Alles Leute wie du und ich. Damals wie heute gibt es Probleme nur mit den klassischen Aufsteigertypen. Die erwarten Ehrfurcht und Sonderbehandlung. Da weiß man immer sofort: die sind nicht wirklich High End. Richtig teure Leute sind immer freundlich und entspannt.
Belletristik-Couch.de:
Nun steht Ozelot und Friesennerz seit Wochen auf den Bestseller-Listen. Auf Ihrer Homepage schreiben Sie selbst „Bestseller geschrieben. Bin total perplex.“ Haben Sie so einen Erfolg ihres Titels nicht erwartet? Und wie ist es für Sie als Autorin, plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen?
Susanne Matthiessen:
Als ich dem Ullstein-Verlag die ersten Kapitel zum Lesen gegeben hatte, sagte die Programmleiterin Katrin Fieber zu mir: „Ich wünsche mir so, dass die Leute sehen, wie viel Klasse in diesem Buch steckt.“ Und dann warnte sie mich vor, dass man als Newcomer über einen Achtungserfolg meistens nicht hinauskommt. Es erscheinen Tausende Bücher jedes Jahr. Und ich war ja auch als Autorin komplett unbekannt. Ungünstig. Und dann auch noch Corona. Alles was der Verlag fürs Marketing geplant hatte, ging schief. Ein Mittagessen mit Journalisten konnte wegen Corona nicht stattfinden. Ein Videodreh scheiterte aus denselben Gründen. Die Rezensionsexemplare kamen bei den Redakteuren und Redakteurinnen gar nicht an. Die saßen im Home Office. Die Büchersendungen gammelten ungeöffnet in den Büros rum. Die Welt steckte in einer Pandemie. Wie sollte mein Buch stattfinden, wenn niemand die Chance hatte, es überhaupt kennenzulernen?
Ich habe diesen Erfolg allein aus diesen Gründen null erwartet. Weil auch die Leute vom Ullstein-Verlag im Home Office waren oder in Kurzarbeit. Und dann hob die Rakete ab. Einfach so. Ich vermute allerdings, dass es auch damit zu tun hatte, dass die Menschen nach dem großen Lockdown und den heftigen Reisebeschränkungen eine wahnsinnig große Sehnsucht nach dem Meer hatten und nach den Zeiten, in denen alles so unbeschwert und verheißungsvoll war. All das erzählt ja mein Buch. Keine Masken. Freiheit. Zukunft.
Belletristik-Couch.de:
In den Monaten des Lockdowns im Frühjahr mussten alle Nicht-Sylter die Insel verlassen. Wie war die Erfahrung der leeren Insel in dieser noch nie dagewesenen Form für Sie?
Susanne Matthiessen:
Diese Wochen, in denen Sylt ohne Gäste war, haben in den Köpfen der Insulaner viel verändert. Diese Stille. Diese Entschleunigung. Diese Weite. Diese Natur. Die Sylterinnen und Sylter haben ihre Insel neu entdeckt und wiederentdeckt. Das war schon überwältigend. Es war auch eine Zeit der Bewusstwerdung. Und dann kam mein Buch und setzte quasi auf dieses Gefühl noch einen drauf. Die schöne Heimat im Ausverkauf. Was haben wir bloß getan? Unserer Insel angetan? Das ging schon tief rein.
Belletristik-Couch:
Sie schildern teils drastisch, wie der Ausverkauf der Insel begann und aktuell scheinbar nicht mehr aufzuhalten ist. Mit dem Sterben der „goldenen Generation“ bricht in Ihren Augen das die Identität schützende Fundament der Insel endgültig weg. Glauben Sie nicht, dass gerade Dinge wie Ihr Buch immer noch ein Umdenken anstoßen können? Was würden Sie sich für Ihre Insel wünschen?
Susanne Matthiessen:
Zusammen mit der Shutdown-Erfahrung hat mein Buch auf der Insel sicherlich einen starken Impuls gesetzt. Es erhebt sich Widerstand gegen das „Weiter so“. Einige meiner Freundinnen und Freunde haben sich mit anderen Syltern zusammengeschlossen und wollen ein letztes Aufbäumen wagen. Es läuft. Und das macht die Politiker und Profiteure sehr nervös. Da muss man schon mutig sein. Die Widerstände sind riesengroß. Da ist viel Geld. Viel Spekulation. Da sind viele Kräfte am Werk. Aber wenn nicht jetzt, dann nie mehr.
Belletristik-Couch:
Am Ende ihres Buches schreiben Sie, dass sie das Gefühl haben, Sylt etwas zu schulden, und sehen es als persönlichen Abschied und den Versuch, die Heimat zumindest in der Erinnerung zu bewahren. Haben Sie für die Zukunft darüber hinaus Ideen für weitere Buchprojekte?
Susanne Matthiessen:
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Das Interview führte Kirsten Kohlbrei im Oktober 2020.
Foto: © Hans Scherhaufer
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