11.2011 Die mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Antje Ravic Strubel sprach mit Carsten Germis über ihren neuen Roman Sturz der Tage in die Nacht, Inzest, mephistophelische Züge und darüber, wie unterschiedlich ein Roman im Westen und Osten ankommt.
Die Liebe ist eine Erlösung
Belletristik-Couch:
Sturz der Tage in die Nacht ist eine Liebesgeschichte. Es geht um die Liebe zwischen Sohn und Mutter. Wie sind Sie darauf gekommen, über Inzest zu schreiben?
Antje Ravic Strubel:
Ich bin nicht einfach so darauf gekommen. Das hat sich während des Schreibens ergeben. Das Buch begann damit, dass der Sohn, Erik, auf diese schwedische Vogelschutzinsel in der Ostsee kommt. Dort trifft er die Ornithologin Inez und verliebt sich in sie. In den ersten Dialogen, die ich geschrieben habe, reagierte Inez manchmal merkwürdig. Ich musste also herausfinden, warum sie so merkwürdig ist. Erst im Laufe des Schreibens hat sich die Geschichte stärker herauskristallisiert. Mir wurde der Rahmen klar, in dem die Figuren hängen.
Belletristik-Couch:
Es ist ein großes Wagnis, über eine inzestuöse Liebe zu schreiben. Hatten Sie davor keine Angst?
Antje Ravic Strubel:
Bei dieser Inzestgeschichte geht es, wie bei allen meinen Büchern, um ein gesellschaftliches Tabu, um Grenzen innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften. Mich interessiert es, an diese Grenzen zu gehen, sie aufzuweichen, vielleicht zu überschreiten. Der Inzest ist im anthropologischen Sinne ein Instrument, das Gesellschaft organisiert. Es setzt am Kern an, bei der Familie. Das Inzestverbot regelt die Frage, was ist das Eigene, was ist das Fremde. Eine Überschreitung des Verbots, die inzestuöse Liebe, gefährdet diese gesellschaftliche Organisation. Es setzt Gesetze, die ja mäßigend wirken sollen und dazu da sind, anarchische Kräfte gesellschaftlich zu binden, außer Kraft. In meinem Roman setzt diese Liebe eine Gesellschaft außer Kraft, die ich als im Grunde zerstörerisch beschreibe.
Belletristik-Couch:
Was ist so zerstörerisch in dieser Gesellschaft?
Antje Ravic Strubel:
Das Zerstörerische sind niedere Trieben wie Gier, Machtgeilheit, Neid, die jedem Menschen eigen sind und die ich im Roman exemplarisch anhand der Staatssicherheit darstelle. Indem Inez und Erik sich für ihre Liebe entscheiden, hebeln sie eine Gesellschaft an ihrer Wurzel aus, die dieses zerstörerische Potential integriert, die es scheinbar problemlos in ihre Organisation aufnimmt. Niedere Triebe lassen sich, wie man weiß, leicht im Namen einer Moral, noch leichter im Namen einer Ideologie rechtfertigen.
Belletristik-Couch:
Sie sagen, vieles habe sich erst im Schreiben entwickelt. Auf mich machte die Geschichte den Eindruck, als sei alles sehr genau durchgeplant.
Antje Ravic Strubel:
Wirklich? Diesen Roman habe ich am wenigsten von allen geplant. Ich habe mich vom Schreiben tragen lassen, und mich erst im Laufe der Zeit und im Zuge des Überarbeitens stärker auf die Handlung konzentriert. Ich stellte fest, es wird eine klassische Enthüllungsgeschichte. Also fing ich an, mich mit Spannungsdramaturgie zu beschäftigen. Denn wie verschenkt wäre eine Enthüllungsgeschichte, deren Spannungspotential man nicht nutzt?
Belletristik-Couch:
Gilt das auch für die politische Geschichte? Feldberg, der frühere Stasi-Mann, erscheint als die zentrale Figur, die alles steuert, wie er schon in der DDR Inez’ Leben gesteuert hat.
Antje Ravic Strubel:
Ja, Feldberg möchte Schicksal spielen. Deshalb lehnt Inez den Gedanken von Schicksal auch vehement ab. Sie kann Schicksal nur als menschliche Manipulation sehen, weil es das ist, was ihr widerfahren ist. Welche Rolle Feldberg für die Jugendliche Inez tatsächlich gespielt hat, hat sich mir erst sehr spät offenbart.
Belletristik-Couch:
Er ist der Bösewicht?
Antje Ravic Strubel:
Für Inez ist er das später. Zunächst sieht sie in ihm den Helfer. Er unterstützt sie, als sie von Felix Ton, dem Vater des Kindes, verlassen wird, organisiert die Adoption und besorgt der 16jährigen Inez einen Ausbildungsplatz. Daß das nicht nötig gewesen wäre und er ein Machtspiel spielt, wird ihr erst später klar. Trotz allem ist das, was ihr zustößt, im Vergleich mit anderen Geschichten, in denen die Staatssicherheit Leben zerstörte, beinahe milde zu nennen. Für mich ist Feldberg eine ambivalente Figur. Natürlich hat er mephistophelische Züge. Er ist omnipotent, verliert aber nach der Wende den Boden und erstarrt zu einer bloßen Geste. Seine Wirkung ist nur noch auf diejenigen wirklich groß, die auf ihn mit den alten Reflexen reagieren. Seine Gedanken, die er über die Selbstfindungsprozesse von Individuen hat, sind auch überhaupt nicht abwegig. Den Zwang, Geheimnisse über sich selbst preiszugeben, kennt man von der Beichte und später von der Psychoanalyse. Nur hat das in einer Diktatur eben ganz andere Konsequenzen.
Belletristik-Couch:
In manchen Besprechungen des Buches ist ihnen vorgeworfen worden, sie schilderten die zwischenmenschlichen Beziehungen in der DDR, Feldberg als Stasi-Mann oder Eriks Vater und Inez’ früherer Freund Felix Ton als Wendehals zu stark mit Klischees, zu banal.
Antje Ravic Strubel:
Wer denkt, es ginge hier um Wendehälse, der denkt, ehrlich gesagt, ein bißchen naiv. Felix Ton ist ein Karrierist. Zu DDR-Zeiten ein Macher, heute ein Macher, der braucht gar nicht zum Wendehals werden, der ist viel zu hoch angebunden. Und Rainer Feldberg ist jemand, der in seinem Glauben an eine Sache und vor allem an sich selbst erstarrt ist. Ihr Verhältnis zueinander ändert sich, die Abhängigkeiten verlagern sich. Ton macht als junger Mann eine Entwicklung vom jungen Wilden zum Systemvertreter durch, aber nicht, weil er daran glaubt, sondern weil er sich davon Abwechslung verspricht, Abenteuer. Bisher habe ich eigentlich noch nie gelesen, daß sich jemand von der Stasi Abenteuer versprochen hat. Und ob es banal ist, zwischenmenschliche Rohheit zu beschreiben, naja – Aber vielleicht hat sich ja auch die eine oder andere klischeehafte Idee der Kritiker wie Mehlstaub über den Text gelegt. Beim Lesen mußten sie davon so stark husten, daß sie die subtileren psychologischen Zusammenhänge schlicht verpaßt haben. Bei diesem Buch stelle ich allerdings fest, daß die Rezeption im Osten eine genau gegenteilige ist.
Belletristik-Couch:
Im ersten Teil erzählt Erik die Geschichte aus der Ich-Perspektive. Ist es schwer, sich in einen jungen Mann hineinzuversetzen?
Antje Ravic Strubel:
Erstens stelle ich mir nicht die Frage, wie ein junger Mann heute ist, zweitens gibt es jede Menge unterschiedlicher junger Männer, drittens ist mir keine der Figuren biografisch auf den Leib geschneidert und viertens arbeite ich über Sprache. Ich suche immer nach einer Sprache, die in eine Glaubwürdigkeit führen kann. Jeder Figur sind Erfahrungsfetzen von mir beigegeben. Aber letztendlich kommt es auf die sprachliche Kunstfertigkeit an, ob eine Figur funktioniert oder nicht. Das Anliegen von Literatur sollte nicht sein, Menschen darzustellen, wie sie sind. Sondern wie sie sein könnten. Menschen, wie sie sind, sind meistens nur Abziehbilder. Und damit dann wirklich Klischees.
Belletristik-Couch:
Als Inez und Erik erkennen, dass sie Mutter und Sohn sind, stehen sie weiter zu dieser Liebe.
Antje Ravic Strubel:
Stimmt. In diesem Roman ist es eine Erlösung. Die Liebenden entscheiden sich für eine von zwei Fiktionen: die Liebe. Mutter und Sohn sind Erik und Inez im sozialen Sinne nie gewesen. Sie haben sich nicht gekannt. Erik wurde sofort nach der Geburt weggeben. Es gibt keine gemeinsam gelebte Wirklichkeit. Ihre Mutter-Sohn-Beziehung ist ein Konzept, aufgebaut auf einem einzigen Tröpfchen Blut. Auch die Liebe ist ein Konzept. Und sie entscheiden sich für das Konzept, das für sie Wirklichkeit hat: sie haben sich als Liebende kennengelernt. Damit entscheiden sie sich auch für die Gegenwart und gegen die zerstörerische Kraft, die in Form der Stasi ihre biografische Vergangenheit belastet. Es ist eine Befreiung für beide. Die Möglichkeit zu einer freien Entscheidung. Gegen die Herkunft kann man sich nur bedingt entscheiden. Aber manchmal, wenn auch verzögert, für die Liebe.
Belletristik-Couch:
Und das Politische, hat das etwas mit Ihrem Leben in Potsdam zu tun?
Antje Ravic Strubel:
Ich lebe in Brandenburg. Und auch wenn ich den Roman nicht tagespolitisch angelegt habe, beeinflussen mich doch die Ereignisse. Als ich am Roman schrieb, wurde ich gewissermaßen überrollt von Diskussionen über den Verbleib von Menschen mit Verbindung zur Staatssicherheit in den Medien, in der Verwaltung. Es gibt hier erst seit 2009 eine Beauftragte für die Stasi-Unterlagen. Eigentlich ein Skandal. Selbst ein Richter, der zu DDR-Zeiten Ausreisewillige ins Gefängnis brachte, hat noch seinen Posten. Insofern ist das Buch indirekt schon auch ein Kommentar zur gegenwärtigen Lage in Brandenburg. Nicht umsonst habe ich Felix Ton in Potsdam verortet. Aber es geht dann doch darüber hinaus und fragt grundsätzlicher: "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?"
Belletristik-Couch:
Warum spielt die Geschichte auf einer schwedischen Vogelschutzinsel?
Antje Ravic Strubel:
Das ist meiner Liebe zu Schweden geschuldet. Ich war 2006 auf dieser Vogelinsel und habe dort wie in einem Rausch die ersten 20 Seiten geschrieben. Ich war völlig fasziniert von der Landschaft, von den Vögeln und hatte zum Glück ein Notizbuch dabei. Und dann habe ich losgeschrieben: Wie jemand auf diese Insel kommt, die erste Berührung von Erik und Inez auf dem Kai, das Geschrei der Trottellummen. Die ersten Seiten blieben dann erst einmal liegen, haben mich aber nicht losgelassen. Und so ging es weiter…
Das Interview führte Carsten Germis am 29.10.2011 per Telefon.
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