Vielbeinig
Edward Osborne Wilson gilt als einer der einflussreichsten Wissenschaftler der Welt. Seit nunmehr fast 50 Jahren veröffentlicht der Insektenkundler und Biologe wissenschaftliche Beiträge und hat sich vor allem in den Bereichen der Evolutionstheorie und der Sozialbiologie den Ruf als Vordenker erworben. Der Schriftsteller Ian McEwan nennt ihn einen "intellektuellen Helden", und auch Richard Dawkins´ populärwissenschaftlicher Weltbestseller "Das egoistische Gen" stützt sich auf seine Theorien. Nun legt Wilson, der für seine Sachbücher bereits zwei Mal mit dem renommierten Pulitzer-Preis bedacht wurde, seinen ersten Roman vor.
Erzählt werden knapp 20 Jahre im Leben von Raphael "Raff" Semmes Cody, der in einer Kleinstadt in Alabama aufwächst. Seine Eltern stammen aus zwei völlig verschiedenen Welten. Seine Mutter entstammt einer einflussreichen und stolzen Familie, die die Geschicke der Südstaaten seit Jahrhunderten mitprägt. Seinem Vater, einem einfachen Mann aus dem Arbeitermilieu, fällt es zunehmend schwerer, sich in dieser hohen Gesellschaft zu bewegen.. Beide Seiten zerren an dem unentschlossenen Jungen. Während sein Vater Raff zu einem bescheidenen, traditionsbewussten und ehrenhaften Mann erziehen möchte, hat die Familie seiner Mutter weitaus ambitionierte Pläne für ihn.
Die Differenzen in seinem Elternhaus treiben ihn schon in jungen Jahren in die Natur, meist in ein unerschlossenes Gebiet namens Nakobee-Trakt, das er bald wie seine Westentasche kennt. Aus anfänglichem Herumstromern entwickelt sich schnell ein tiefes Interesse an der Natur und aller ihrer Geschöpfe. Raff beobachtet, bestimmt und katalogisiert alle Tiere, die er in seiner kleinen Wildnis finden kann und entwickelt sich schnell zu einem bewanderten Naturforscher. Unterstützt wird seine Liebe zur Natur von seinem Mentor, dem Ökologen Frederick Norville, der auch als Erzähler der Geschichte fungiert.
Doch bald legt sich ein Schatten über Raffs kleines Paradies. Gerüchte machen die Runde, dass die Eigentümer den Landstrich, der seit Generationen brachliegt, veräußern wollen. Verzweifelt sucht Raff Hilfe, um die Erschließung seines Refugiums zu verhindern. Doch weder sein reicher Onkel, noch Bill Robbins, ein örtlicher Journalist und Umweltschützer, können ihm Hoffnung machen. Doch Raff beschließt, nicht aufzugeben und den Schutz der ihm so vertrauten Landschaft zu seiner Mission zu machen.
Man merkt dem Autor seine Liebe für die Natur auf jeder einzelnen Seite an. Minutiös beschreibt er die Landschaft mit ihren Pflanzen und Tieren. Am deutlichsten wird Wilsons Leidenschaft in dem fast 100 Seiten starken Kapitel "Die Ameisenchronik". In diesem anschaulichen und spannendem Buch im Buch beschreibt der Autor das Wachsen und Vergehen verschiedener, konkurrierender Ameisenvölker und bringt dem Leser ein Stück Naturkunde nahe.
Leider gerät - im Vergleich mit diesem absolut lesenswerten Einblick in die Welt der Ameisen – die eigentliche Geschichte zur Rahmenhandlung. Personen tauchen episodenhaft für einige Seiten oder Kapitel auf, ohne dass der Autor im Verlauf des Buches auf sie zurückkommt. Der interessante Konflikt innerhalb der Familie wird kaum noch angesprochen, und auch Raffs Entwicklung vom Kind zum Harvard-Absolventen wird in einem derartigen Tempo abgekanzelt, dass man als Leser nie das Gefühl bekommt, den Protagonisten wirklich kennen zu lernen. Hier lässt Wilson einige lose Enden einfach liegen.
Stattdessen verirrt er sich in kruden Nebenkriegsschauplätzen. So artet der Konflikt zwischen Raff und einer Gruppe religiöser Hardliner, die urplötzlich wie aus dem Nichts auftauchen, in Szenen aus, die überhaupt nicht in dieses ansonsten beschauliche Buch passen wollen. Wilson, der als Evolutionsbiologe im ständigen Konflikt mit Amerikas religiöser Rechten steht, hat sich hier wohl zu einer Retourkutsche hinreißen lassen. Anders kann man manche Sätze, die er Raffs religiösen Gegenspielern in den Mund legt, wohl kaum deutelbeinigen:
"Gott kümmert sich einen Scheißdreck um das Land und die Kreaturen darauf, sondern nur darum, wie Sein Volk sie nutzen kann."
Man kann das Buch aber nicht beurteilen, ohne auch den Standpunkt des Autoren zu berücksichtigen. Wilson ist Ökologe und seit vielen Jahren engagierter Naturschützer. Es fällt nicht schwer, zwischen seinen Ameisenkolonien, die sich durch ungehemmtes Wachstum ihrer eigenen Lebensgrundlage berauben, und der zügellosen Ausbreitung des Menschen Parallelen zu ziehen. Lesern die Interesse an diesem Thema, sowie detaillierten Landschafts- und Naturbeschreibungen haben, sei "Ameisenroman" explizit ans Herz gelegt.
Dennoch muss man festhalten, dass Wilsons Werk viel mehr hätte können: Die Südstaaten zwischen Tradition und Moderne, der Kampf der Religionen um die Seelen der Menschen, und nicht zuletzt die interessante Familienkonstellation... Die Geschichten, die Wilson erzählt, wären es wert gewesen, mehr als nur Anekdoten zu bleiben.
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