Lebendige Bilder
Auch wenn Hernán Rivera Letelier in Deutschland bisher ein eher unbekannter Autor ist, da erst zwei seiner Bücher ins Deutsche übersetzt wurden, gehört er doch zu den meistgelesenen spanisch schreibenden Autoren. 1951 in der Atacamawüste geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, musste er schon in jungen Jahren als Kumpel in den Minen arbeiten. Seine wenige Freizeit widmete er dem Lesen, indem er eifriger Nutzer der Werksbibliothek wurde. Ein Gedichtwettbewerb, bei dem er mit einem vierseitigen Liebesgedicht gewann, verhalf ihm schließlich zum Durchbruch.
Mit der Filmerzählerin gelingt es Letelier auf nur 100 Seiten, den Leser in seinen Bann zu ziehen und nimmt ihn mit in ein chilenisches Dorf, in eine Zeit, in der Kinobesuche noch etwas Besonderes waren und Begeisterung und eine Ehrfurcht hervorriefen.
Sein Roman erzählt die Geschichte der zehnjährigen María Margarita, die gleichzeitig Erzählerin des Romans und "Filmerzählerin" ist.
María wächst mit ihren älteren Brüdern und dem nach einem Arbeitsunfall gelähmten, trinkenden Vater in einem chilenischen Dorf auf in ärmlichen Verhältnissen auf. Das Geld ist knapp und die früher von der ganzen Familie geliebten Kinobesuche sind nicht mehr möglich, so dass der Vater María auswählt, die Filme anzusehen um sie anschießend der ganzen Familie nachzuerzählen. Dies gelingt ihr so überzeugend und lebendig, dass sich ihr Talent nach und nach im ganzen Dorf herumspricht und ihre Vorführungen mit der Zeit sogar zum Familienunterhalt beitragen. Doch das Schicksal meint es nicht gut. María, die inzwischen Privatvorführungen gibt, gerät an einen Mann, der mehr als eine Erzählung von ihr fordert und Marías Begeisterung und Freude am Erzählen bricht. Nach dem Tod des Vaters und dem Verlust der Brüder blickt sie auf ihr Leben zurück, wieder erzählend.
Letelier gelingt es, das Gefühl zu vermitteln, als spräche María den Leser direkt an, ziehe in ins Vertrauen und lasse ihn an ihren tiefsten Sehnsüchten, Ängsten und Gefühlen, aber auch an einer unbändigen Lebensfreude und ihrer Liebe zu den Menschen und Filmen teilhaben. Obwohl sie mit ihren zehn Jahren noch Kind ist, weiß sie um die Sorgen und Nöte der Familie. Sie hat verstanden, warum die Mutter den gelähmten, viele Jahre älteren Vater verlassen hat, weiß, dass es den Vater verletzt und traurig macht, wenn sie die eigentlich geliebte Mutter erwähnen würde. Ihre Ängste teilt sie mit dem Leser, der als ihre große Verletzbarkeit erfährt, ihre innere Zerrissenheit spürt.
Bereits zu Beginn des Romans wird deutlich, wie groß die Last Marías ist, die in ihrer rückblickenden Erzählung immer wieder vorgreift und sich selbst scheinbar zwingen muss, die Geschichte der Reihe nach zu erzählen. Sie kann es kaum erwarten, sich endlich mitzuteilen.
Letelier schreibt so lebendig, dass der Leser sich nach Chile versetzt fühlt. María gelingt, es ihre Zuhörer durch Worte in eine andere Welt zu entführen und die Bilder vom Kino in die Köpfe zu projizieren. Man leidet mit ihr, und bekommt den Drang, ihr helfen zu wollen, dem kleinen Mädchen, dass von anderen unbemerkt mit Sorgen und Ängsten lebt, nach außen jedoch den Schein wahren muss.
Leteliers Roman gibt Einblicke in die Seele eines kleinen Mädchens, das einerseits Traurigkeit, andererseits aber auch Achtung und Bewunderung erzeugt. Trotz oder gerade durch die Kürze des Romans entsteht eine schnörkellose Geschichte, die von der ersten bis zur letzten Seite absolut lesenswert ist. Es lässt sich hoffen, dass weitere Romane von Letelier ins Deutsche übersetzt werden!
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