Eine Liebesgeschichte mit Hindernissen
Vaclav weiß schon mit 10 Jahren ziemlich genau, was er sich für seine Zukunft wünscht: er will der größte Zauberer der Welt werden und er möchte seine beste Freundin und Zaubererassistentin Lena heiraten. Jeden Tag nach der Schule sitzen die beiden zusammen in Vaclavs Schlafzimmer und planen ihre erste große Zaubershow auf Coney Island. Unter Vaclavs Bett bewahren sie detaillierte Listen auf über alles, was sie für diese Show brauchen werden: Materialien für die Tricks, einen Zylinder für Vaclav und einen goldenen Glitzerbikini für Lena. Denn auch Lena kann sich nichts Besseres vorstellen, als die reizende Assistentin von Vaclav dem Großartigen zu sein. Sie weiß, dass Vaclav und sie nicht ohne einander können: "Ohne Zauberer keine Assistentin und ohne Assistentin kein Zauberer."
Haley Tanners Roman hält gekonnt die Balance zwischen den Erzählperspektiven der unschuldigen und unwissenden Kinder und der unter der Oberfläche durchschimmernden Grausamkeit und Härte der Welt, in der diese Kinder leben. Vaclav und Lena stammen beide aus russischen Immigrantenfamilien, sie leben beide in Brooklyn und gehen beide in den Sprachförderunterricht an ihrer Schule. Und doch könnten ihre Lebensumstände kaum verschiedener sein. Während Vaclav von seiner überfürsorglichen Mutter Rasia behütet wird und ein relativ sorgloses Leben führt, werden die Zustände in Lenas "Zuhause" in ihrer ganzen Schrecklichkeit erst nach und nach näher beleuchtet.
Kurz vor der geplanten Zaubershow verschwindet Lena plötzlich spurlos und für Vaclav bricht eine Welt zusammen. Obwohl seine Mutter mehr über Lenas Verbleib zu wissen scheint, antwortet sie nur ausweichend auf Vaclavs Fragen. Und als könnte die Geschichte nicht weitergehen, solange Vaclav und Lena nicht zusammen sind, macht der Roman einen aprupten Zeitsprung und versetzt den Leser sieben Jahre in die Zukunft: Es ist der Tag von Lenas 17. Geburtstag und sie hat beschlossen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Nach der langen und schmerzvollen Trennung der Liebenden folgt die radikale Antiklimax: Lena hebt einfach den Hörer vom Telefon ab und ruft Vaclav an, womit sie die Geschichte wieder ins Rollen bringt.
Die 29-jährige Haley Tanner erzählt in Vaclav und Lena von einer Liebe, die so groß ist, dass sie alle Hindernisse überwinden und alles Leid auslöschen kann. Vielleicht liegt es daran, dass Vaclavs und Lenas Gefühle für einander als so absolut und unantastbar beschrieben werden, dass der Roman gelegentlich die Grenze zum Kitsch überschreitet. Die erste Umarmung nach sieben Jahren lässt die Beiden wortwörtlich alles um sie herum vergessen:
"Er setzt sie auf dem Bürgersteig ab, und da sind überraschenderweise all die anderen Menschen, die versuchen, ihnen auszuweichen. Noch einen Augenblick zuvor war sie in der Luft, in seinen Armen, da schien es niemanden sonst auf der Welt zu geben."
Zugleich werden in den letzten Zügen der Geschichte so viele dunkle Themen angesprochen und so viele düstere Schatten der Vergangenheit ans Licht gebracht, dass die vielen losen Fäden nicht zu einem stimmigen Ganzen verknüpft werden können. Den ersten drei Vierteln des Romans hätte etwas Straffung vermutlich gut getan, während das Ende den sich überschlagenden Ereignissen und neuen Informationen nicht den nötigen Raum zugesteht. Die Figur der Rasia gewinnt im Verlauf der Geschichte immer mehr an Komplexität und Zwiespältigkeit und betont dadurch die relative Zweidimensionalität der titelgebenden Hauptpersonen.
Dennoch ist Vaclav und Lena ein lesenswerter, rührender und spannender Roman, der eine Liebesgeschichte mit Hindernissen im New Yorker Einwanderermilieu erzählt und sich durch die kindliche Erzählperspektive einen originellen Blick auf die Ereignisse bewahrt.
Deine Meinung zu »Vaclav und Lena«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!