Das Ende des bengalischen Tigers
- Liebeskind
- Erschienen: Januar 2011
- 1
- -: ?, 1998, Titel: 'Kamokuna-shigai, midarana-tomurai', Originalsprache
- München: Liebeskind, 2011, Seiten: 220, Übersetzt: Sabine Mangold
Verstörend bezaubernd
Yōko Ogawa passt in keine Schublade. Ein ganzer Schubladenschrank wäre nicht ausreichend, um zu kategorisieren, welches Genre das ihre ist. Der Stil der 1962 im japanischen Okayama geborenen Schriftstellerin ist ein ganz besonderer. Ogawa schreibt elegant, vorsichtig, poetisch, mit großem Einfühlungsvermögen – auf der einen Seite. Auf der anderen wirken ihre Geschichten zerstörend, verstörend, skurril, makaber zuweilen und lassen die Frage zu, was die Fantasie dieser Frau mit eben dieser Frau anstellt? Eines ist Yōko Ogawa auf alle Fälle: Ein großes Talent, wie "Das Ende des Bengalischen Tigers" beweist.
Schon die erste Seite des Romanes lässt Böses erahnen: "... man hätte meinen können, es gäbe keinen Verlust auf dieser Welt." Voran gestellt hat die Autorin die Beschreibung eines scheinbar perfekten Tages. Blauer, wolkenloser Himmel, eine leichte Brise, die das Laub rascheln lässt. Menschen genießen ihren freien Sonntag und schauen einem Luftballonverkäufer zu, der Tierkunstwerke aus bunten Ballons gestaltet. Die Idylle trügt und schon auf der nächsten Seite erfährt der Leser um eine traurige Begebenheit: Eine Frau geht in eine Bäckerei, um zwei Erdbeertörtchen für ihren Sohn zu kaufen. Eine andere Frau fragt, wie alt dieser sei. "Sechs. Er ist sechs und bleibt für immer sechs. Er ist tot", gibt die Mutter zur Antwort. "Er ist tot." Die Schlichtheit dieses einen Satzes ist entwaffnend. Und "entwaffnen" ist Ogawas Stärke, obgleich ihre Geschichten voller Tod, Sterben und gar Mord sind.
Elf Geschichten ganz unterschiedlichen Inhalts hat Yōko Ogawa zusammen gefasst. Jede zwar in sich geschlossen, aber immer mit Verbindungen zu anderen Erzählungen. Dabei ist nicht nur der Roman an sich spannend, sondern auch die Tatsache, dass vereinzelte Personen, so wie auch Textpassagen, an anderer Stelle wieder auftauchen. Was also hat die Mutter eines toten Kindes mit einer Witwe zu tun, deren Mann zu Tode kam? Wie stellt sich die Verbindung einer Schriftstellerin zu einer Konditorin dar, die als Jugendliche Kiwis aus einem alten Postamt geklaut hat? Wie passt die surrealistisch anmutende Frau, die sich ihr Herz wieder zurück in den Körper operieren lassen will, in das gesamte Konstrukt?
Ogawa erzählt ihre Geschichten aus der Sicht unterschiedlicher Personen. Immer in "ich"-Form und nicht immer ist sofort erkennbar, wer spricht. Sie wechselt häufig ihre Perspektiven und spricht den Leser zuweilen direkt an. Dabei fällt auf, dass ihr – ob des oft grausamen Inhalts – nie der Humor abhanden kommt. In die "Die alte Frau J." beschreibt Ogawa eine kauzige Person, deren Lebenselixier ihr kleiner Gemüsegarten im Hof zu sein scheint. Dort wächst das schönste Gemüse, unter anderem Karotten, die Ähnlichkeiten mit einer Hand aufweisen. Die Alte schenkt der Schriftstellerin eines dieser Wurzeln, die bei ihr im Hause zur Miete wohnt: "Ich überlegte mir, dass es auf jeden Fall das Beste wäre, zuerst die fünf Finger vom Absatz her abzutrennen. Nacheinander kullerten sie über das Schneidebrett. An diesem Abend aß ich meinen Kartoffelsalat mit dem kleinen und dem Zeigefinger."
Der auf mysteriöse Weise verschwundene Mann von Frau J. wurde wenig später gefunden. Unter dem Gemüsebeet. Die Hände waren abgetrennt.
Wie viel Fantasie bedarf es, um sich in eine Folterkammer hinein zu denken? Ogawa gelingt es meisterlich. Eine ihrer Hauptpersonen besucht ein Museum für Folterinstrumente. Ein Mann erklärt sachlich und sehr fein, was es mit all den Gerätschaften auf sich hat. Er erklärt es nicht so, dass der Leser das Buch vor Grauen aus der Hand legen möchte. Er erklärt so, dass ein jeder wissen möchte, warum sich die Frau dafür interessiert und wie die Instrumente des Grauens mit den anderen zehn Episoden des Buches zusammen hängen – und sie hängen zusammen. Sei es, durch das Brechen der Rippen oder Zangen zum Herausreißen der Fingernägel. "Behutsamkeit", erfährt die Besucherin des Museums, "ist der entscheidende Punkt beim Foltern."
Yōko Ogawa reist durch die Welt abgründiger Seelen. Blickt hinein und holt Verstörendes heraus. Ihre elf Geschichten sind gleichbleibend stark – sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Sie beginnen alltäglich, friedlich in freundlicher Atmosphäre und driften ab ins Unfassbare, Groteske, ins Surreale. Wie in "Anprobe für ein Herz".
Ein Sattler erhält eines Tages Besuch von einer Frau, die sich eine präzise gefertigte Tasche für ihr Herz wünscht. Das Organ nämlich befindet sich nicht im sondern vorm Körper der Frau. Sichtbar mit all seinen Adern. Der Sattler baut eine besondere Beziehung zu der Frau auf – oder besser zu ihrem Herzen. Er will es spüren, in die Hand nehmen und die perfekte Tasche für den Muskel fertigen. Die Frau jedoch beschließt, sich das Herz zurück in den Körper pflanzen zu lassen und benötigt die fertige Tasche nicht mehr.
Der Sattler, tief enttäuscht und voller Trauer, weil sein ungewöhnlicher Prototyp nicht mehr benötigt wird, besucht die Frau im Krankenhaus - mit einer großen Schere in der Hand...
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