Ich muss heraus aus allem, was ich muss
Natürlich denkt man zuerst an den Schauspieler, wenn man dieses Buch in Händen hält, und ist gespannt darauf, ob hier ein Künstler, der zeitlebens der Sprache Gestalt verliehen hat, so einfach die Seiten wechseln kann. Um es gleich zu sagen, Bierbichler kann’s. Wer daran zweifelt und auf Grund der reichen Ausstattung an detaillierten Beobachtungen und der Verwendung von Eigenschaften zu Anfang skeptisch ist, mag sich den Roman laut vorlesen und bemerkt neben dem Geschrieben eine zweite Qualität: Der Roman klingt, er dröhnt fast.
Hier ist kein Erzähler am Werk, der sich zurückzieht, um fein gesponnen zu reflektieren. Hier steht ein Autor mitten in seiner Geschichte und seine Sätze hallen im tiefen Bariton nach. Mittelreich folgt einer lebenslangen Veränderung, deren Katastrophen dazu führen, dass ein künstlerisch veranlagter Mensch wie Pankraz eine Verästelung in sich verspürt, die ihm das Leben zur Last macht.
Er wünscht sich ein anderes Leben und ist in sein eigenes zwangsverpflichtet worden, nachdem der Bruder im Krieg versehrt wurde. Es geht um die Seewirtschaft, den Familienbesitz, der seit Generationen bewahrt wird. Es geht um die Tradition. Um die Wurzeln. Ums Auskommen. Bierbichler umreißt gleich ein Jahrhundert deutscher Geschichte voller äußerer und innerer Verwüstungen.
Wenn der Autor den Wandel eines ganzen Landstrichs zur Langweile und zum Warten hin beschreibt, von persönlichen wie politischen Dramen umpflügen lässt, beschreibt er ein Stück Heimat. Es bedarf nicht erst eines Sturms, um die tiefe Tragik menschlicher Existenz mitsamt des Hausdachs wegzupusten und nackt zurückzulassen.
Was den Roman lesenwert macht, ist, dass Bierbichler keine Scheu kennt, bis an die Grenze des sprachlich Zumutbaren zu gehen. Beschreibt er in der Sturmnacht Pankraz inneren Kampf mit sich, so kommt es einem vor, als begegneten wir einem von Shakespeares an der Welt verzweifelten, innerlich zerrissenen Helden. Ebenso in der Natur. Auf wenige Seiten schildert er einen über den See heraufziehenden Sturm, als braue er sich gerade über unseren eigenen Köpfen zusammen. Während in der Seewirtschaft die Gäste hocken, Wilhelm Raabe um die Ecke schaut, und Bierbichler als Chronist auftritt, indem er mit ihnen am Stammtisch hockt und über die Vorfälle der letzten Woche schwadroniert. Diese Nähe bewahrt die Geschichte vor den gängigen Heimatklischees.
Der Autor scheut nicht einmal davor zurück, sich an Kleists Marquise von O. anzulehnen. Wenn die Russen in den Osten einfallen und einer Gutstochter die Vergewaltigung droht, hat die verstorbene Mutter sie längst aus der Familie verstoßen, weil sie nur ein Adoptivkind ist und sie deren Geheimnis zeitlebens bewahren musste. Die Tochter findet sich nackt von Russen auf einem Tisch ausgebreitet wieder, der Schändung ausgesetzt. Nur ein Makel der Natur wird sie davor schützen, missbraucht zu werden. Die Tochter jedoch ist für den Rest ihres Lebens gebrandmarkt. Sie wird entblößt feststellen müssen, dass sie nicht einmal den Körper besitzt, den sie als ihren eigenen betrachtet.
An dieser Stelle stellt Bierbichler nicht zum ersten Mal die Frage: Was macht das Leben aus uns? Ist es nicht so, dass das Glück von zu vielen Zufällen abhängt? Ist es nicht besser, wenn wir nicht zu viel über uns erfahren? Besitzen wir überhaupt eine Chance in all den Lügen, die wir uns für uns zurechtgelegt haben?
Die Drehung an der Schraube des Bekannten, die der Autor sprachmächtig an vielen Ecken des Romans ansetzt, trotzt der oberflächlichen Betrachtung. Wir können uns nicht entziehen. Das bedrückt mitunter. Doch alle Dramen, das wusste Shakespeare schon, beinhalten im Kern den Moment, wo man sich stellen muss.
Wenn Literatur unterhalten kann, dann sicher, indem sie das Leben prall mit Sprache füllt. Da ist Josef Bierbichler auf bestem Weg.
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