Die letzte Liebe meiner Mutter
- Luchterhand
- Erschienen: Januar 2011
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- Amsterdam: Contact, 2010, Titel: 'De laatste liefde van mijn moeder', Seiten: 235, Originalsprache
- München: Luchterhand, 2011, Seiten: 190, Übersetzt: Rainer Kersten
Abseits des belgischen Königshauses
In seinem aktuellen Roman Die letzte Liebe meiner Mutter verführt Verhulst den Leser zu einer Zeitreise ins Belgien der siebziger Jahre. Auch bei den kleineren Leuten, ihrer nimmt sich Verhulst wie gewohnt augenzwinkernd, liebevoll an, ziehen die revolutionären Errungenschaften wie TV, Teppichboden und Kühlschrank in die eigenen vier Wände ein. Der Siegeszug des Kassettenrekorders ist unaufhaltsam, der häusliche Friede wird von Jugendlichen bedroht, die sich obszönerweise in Jeans und T-Shirts zeigen wollen.
Nach schier endlosen Leidensjahren gelingt es Martine sich von ihrem namenlosen Säufer und Schläger scheiden zu lassen. Vorbei die Zeit, wo ihr Exmann das Familieneinkommen in den Kneipen auf den Kopf haute und sich anschließend von vorne bis hinten bedienen ließ. Sie findet ihr Glück in den Armen des redlichen VW-Arbeiters Wannen, der mit dieser Beziehung den Absprung aus dem eigenen Elternhaus schafft. Die Harmonie wird nur von Martines elfjährigem Sohn Jimmy getrübt, der zum Leidwesen beider seinem Erzeuger wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
Wenn in der Gegenwart neudeutsch die Patchworkfamilie zur Regelinstitution wird, führt uns Verhulst in eine Zeit, in der Geschiedene noch mit sozialer Ächtung zu rechnen hatten. Unverdrossen suchen Martine und Wannen ihr kleines Glück, verwerfen die Idee, sich wie alle anderen gen Süden aufzumachen, buchen stattdessen mit einer einwöchigen Busreise in den Schwarzwald den ersten Höhepunkt ihrer neu zusammengesetzten Familie.
Wenn uns Verhulst durch Luxemburg und Frankreich führt, bleibt kein Auge trocken. Das Großherzogtum bekommt sein Fett als Steuerparadies weg, die Franzosen müssen für ihre nationalen Eigenheiten herhalten. Grandios fällt seine Beschreibung aus, als die belgische Reisegesellschaft auf französischem Boden den Erstkontakt mit McDonald`s aufnimmt. Vom Interieur bis zum Big Mac wird alles zur köstlichen Zielscheibe seiner Landsleute oder wie er sie beschreibt: "Muschelfressende Bauern".
Am Reiseziel angekommen, akklimatisieren sich die Gäste im Land der Kuckucksuhren, Megatorten und Obstbrände. Selbstverständlich müssen sie im Alltag den Wechselkurs des belgischen Franc im Verhältnis zur DM berücksichtigen. Eine witzige Vorausschau ist es, wenn die Reisegesellschaft einen utopischen Vorgriff auf eine gemeinsame europäische Währung wagt. Der Eurorettungsschirm lässt grüßen!
Martine und Wannen geben den Prototyp von Pauschaltouristen ab, suchen in dieser einen Woche Abstand und Zerstreuung von monotoner Fabrikarbeit, um sich dann wieder glücklich im häuslichen Ambiente einzufinden. Jetzt können auch sie bei entsprechenden Gelegenheiten mit den Arbeitskollegen exotische, andersartige Urlaubserlebnisse austauschen.
Mit Beginn der Reise fordert Wannen Jimmy auf, ihn in der Öffentlichkeit als Vater anzusprechen, dieser kontert mit einer Art Schweigegelübde. Da die Erwachsenen den Anforderungen einer Stieffamilie ahnungslos begegnen, bleiben die Konflikte nicht aus. Dass Martine ihr Glück kaum fassen kann, Wannen seine Rolle als Familienoberhaupt findet, ändert nichts an der Tatsache, dass Jimmy in dieser Konstellation auf Dauer zu kurz kommt. Die Reisebekanntschaft mit einem etwas älteren Mädchen, das ihm in Sachen Jugendkultur um Jahre voraus ist, mildert die übergriffige Erwartungshaltung der Erwachsenen nur zeitweilig ab.
Bei Dimitri Verhulst versteht es sich geradezu von selbst, dass en passant weder das belgische Königshaus, noch Religion und Psychoanalyse ungeschoren davon kommen. Der Autor verfügt über eine beachtliche Beobachtungsgabe für alltägliche Begebenheiten, um sie wortreich und witzig zu Papier zu bringen. Wer sich gerne niveauvoll unterhalten lassen mag, wird mit diesem Roman sicherlich gut bedient.
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