Modell 1929
Eine alte Frau lebt in einer Garage, mit einem Laptop, einer Handgranate und mischt über Facebook die User auf. Gefangen zwischen Katheder und Bettpfanne wartet sie auf die Mails, die sie mit der Außenwelt verbinden, und ist auf die Hilfe der Mädchen vom Häuslichen Pflegedienst Reykjavík angewiesen. Sie gibt sich via Internet als Linda Pétursdóttir, Miss World 1988, aus. Sie sammelt Liebesbeweise ein und erteilt Ratschläge unter falschen Profilen an den Rest der Welt, während sie dem Gott Nikotin alle Ehre erweist und gleichzeitig mit Nasensonde und Pressluftflasche am Leben gehalten wird.
Eigentlich sollte sie sterben. Sie fällt den "Nichtbegrabenen" zur Last. Aber der Tod lässt auf sich warten. Und weil alte Menschen nun mal gern mangels neuer Erfahrungen in Erinnerungen schwelgen, schweift auch der Autor ab, um ein ganzes Jahrhundert aus isländischer Sicht zu umschreiben. Seine Herbjörg María Björnson kommt 1960 gar zur rechten Zeit in Hamburg an und lernt die Beatles kennen und lieben. Spätestens hier, zeigt sich der erste Riss in einem erzählerischen Konzept, das mittels einer durchs Leben gestählten Kratzbürste, Zeitreisen unternimmt.
Nicht nur, dass der überaus erfrischende Ton aus der Garage, die skurrile Anlage des Beharrens auf Unabhängigkeit mittels moderner Kommunikation abhanden kommt, man nimmt an vielen Stellen Hallgrímur Helgason den Ton seiner jungen Heldin nicht ab. Wenn die Neunjährige das angebliche Gespräch zwischen Mutter und Vater belauscht, als das Familienoberhaupt als Isländer und Nazi-Anhänger in die deutsche Armee eintreten will, hört man allzu sehr den Autor heraus, der ein zerrüttetes Jahrhundert in eine Lebensgeschichte einbindet.
Wer Helgasons Roman 101 Reykjavík und die wunderbar überdrehte Familie um seinen Helden Hlynur kennt, den erwartet in Eine Frau um 1000° ein eher zwiespältiger Eindruck. Einerseits witzig in vielen Passagen, wenn Herbjörg María zum Beispiel, den Termin für ihre eigene Einäscherung selber bestimmen will und sich mittels Handy mit der zuständigen Behörde verbinden lässt. Oder wenn sie Bakari Matawu in Harare so den Kopf verdreht, dass er nach ihrem "krebsmarinierten Weiberfleisch" verrückt ist und ihr Liebesmails schreibt. Oder wenn sie einem überzüchteten Bodybilder zu immer härteren Training antreibt und ihn nach einem Wettbewerb in London zu einer heißen Liebesnacht in einem Hotel empfangen will. Da spielt Helgason seine Schlagfertigkeit um Wahrheit, Erfindung und Dichtung aus, die er nicht zuletzt dem Umstand verdankt, dass er zuweilen auch als Stand-Up Comedian aufgetreten ist. Von leichter Hand verstrickt er da Lügen mit Wunschdenken und entwirft Geschichten daraus.
Wäre er nur der Garage treu geblieben. Seine Einlassungen über die Frau an sich:
Ich habe immer gesagt, eine normale Frau braucht zwanzig Jahre um ihre Bettapparaturen richtig in den Griff zu kriegen... Man erkennt es ganz deutlich, welche Frau auf der Matratze tüchtig ist und ihre Maschinchen an der Steckdose angeschlossen hat.
ist doch zu sehr Altherrenphantasie, die sich mit Kalauern über die Runden zu bringen versucht. Und wenn sie Dana das Versprechen abzuringen versucht, nie eine Frau sondern ein Mensch zu werden, dann läuft der Roman in die Gefahr das Skurrile zu überdrehen, und ihm somit den Witz zu rauben.
Die 80jährige Herbjörg Mariá Björnsson, die Enkeltochter des ersten Isländischen Staatspräsidenten lässt sich von niemandem etwas vorschreiben. Vor allem die Männer sind eine Last. Als widerborstige Zynikerin im Alter ist sie endlich frei. Unerschrocken. Zuvor jedoch läuft sie zu sehr am Gängelband des Autors.
Zum Schluss, halb umnachtet, sagt sie:
Der Tod. Er ist sehr gesellig. Und jeder seiner Auftritte ausverkauft.
Nur sind die Sterbenden dabei zumeist ihr einziges Publikum. Das durchweht den Roman mit einem Hauch von Tragik, auch wenn Herbjörg Mariá am Ende glaubt, den alles sehenden Blick bekommen zu haben, allwissend geworden zu sein. Hallgrímur Helgasons Heldin wird wie von ihr geplant am 14. Dezember sterben.
Wenn das keine Punktlandung für ein ereignisreiches Leben ist.
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