Der Poet der kleinen Dinge

  • Rodez: Rouergue, 2010, Titel: 'Vivement l´avenir', Seiten: 301, Originalsprache
  • Hamburg: Hoffmann & Campe, 2011, Seiten: 3, Übersetzt: Stephan Benson
Der Poet der kleinen Dinge
Der Poet der kleinen Dinge
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Rita Dell'Agnese
801001

Belletristik-Couch Rezension vonDez 2011

Die Schönheit hinter der Häßlichkeit entdecken

Alex nennt ihn Roswell, seine eigene Schwägerin heißt ihn Crétin: Gérard gleicht in seiner Behinderung einem Außerirdischen. Obwohl sie Gérard erst seit kurzem kennt, hat die Weltenbummlerin Alex freundschaftliche Gefühle für den sensiblen Mann entwickelt. Autorin Marie-Sabine Roger bewegt sich hier auf sehr dünnem Eis. Sie baut auf die positive Vorstellungskraft der Leser, oder auf deren eigenen Erfahrungen mit behinderten Menschen. Denn nicht jeder fühlt sich wohl beim Gedanken, einem Menschen mit Behinderung so offen zu begegnen.

Äußerst subtil bewegt sich Marie-Sabine Roger auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehung, dies nicht nur in Bezug auf Gérard. Sie skizziert einen Familienalltag, der zwar skurril anmutet, dennoch aber der Realität sehr nahe kommen dürfte. Da ist etwa Gérards Schwägerin Marlène, die ihrer Jugend nachtrauert und sich eine verpasste Karriere zusammenträumt. Verheiratet ist sie jedoch mit einem Mann, der in der nahen Hühnerfarm arbeitet und zudem seit zwei Jahren seinen behinderten Bruder bei sich aufgenommen hat, die Marlène betreuen soll. Das Familienleben des Trios bewegt sich auf einem festgefahrenen Pfad: Solange nicht an diesem Gefüge gerüttelt wird, funktioniert alles. Wobei vor allem die Gefühlswelt der drei etliche Mankos aufweist. Doch da kommt Alex ins Spiel, die in keines der Schemen passt, die Marlène vertraut sind. Roger lässt Alex als moderne Rebellin auftreten: eine Frau, bereits 30, die sich nirgends für längere Zeit niederlassen mag und kaum etwas über sich preisgibt. Das Spannungsfeld, in dem sich Marlène und Alex bewegen wird durch die Überlegungen Marlènes vertieft, Gérard auszusetzen, um ihn loszuwerden.

Bewegt sich das Geschehen zunächst vor allem im engeren Rahmen, öffnet die Autorin schließlich den Kreis und verschiebt den Fokus auf zwei weitere Figuren, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen. Olivier, der sich vor allem durch das geschickte Werfen von Bierdosen auszeichnet und Cédric, der sich einer selbstmitleidigen Betrachtung seines bisherigen Lebens – und Scheiterns – hingibt, betreten die Bühne. Sie, die sich selber außerhalb der Norm bewegen, können Gérard so hinnehmen, wie sie ihn erleben. Als einen zufriedenen Menschen, der selbst in kleinen Dingen Poesie entdeckt. Die Autorin verknüpft die vier Menschen durch eine zufällige Begegnung miteinander. Olivier und Cédric helfen Alex aus einer brenzligen Lage, in die sie bei ihrem Spaziergang mit Gérard geraten ist. Das schweißt zusammen und so stellt der Leser kaum die Frage, wie in dieser Geschwindigkeit aus der Begegnung Freundschaft wachsen konnte.

Zu sagen, was genau den Reiz von "Der Poet der kleinen Dinge" ausmacht, ist schwierig. Es ist eine gelungene Mischung zwischen Ernsthaftigkeit, Humor, Nachdenklichkeit und Hoffnung, die in diesem Roman mitschwingt. Und es ist die Bestätigung, dass jeder seinen Platz im Leben findet, selbst wenn seine Situation noch so schwierig ist. Genau hier setzt aber auch leise Kritik an Rogers Roman an: Die Bereitschaft aller, Gérard so zu nehmen, wie er eben ist, scheint etwas zu sehr durch die rosarote Brille betrachtet. Im Zusammenhang mit dem ganzen Text stimmt das Bild zwar, doch bleibt das diffuse Gefühl, als sei die Geschichte hier etwas zu lieblich geraten.

Trotz kleinen Schwächen hat Marie-Sabine Roger aber bewiesen, dass "Das Labyrinth der Wörter" keine Eintagsfliege ist. Die Autorin hat etwas zu sagen und sie tut dies auf eine stille aber eindrückliche Art. Kaum jemand, der sich nicht von ihren Plädoyers für einen liebevolleren Umgang mit den Menschen und ihren Makeln berührt fühlte.

Der Poet der kleinen Dinge

Marie-Sabine Roger, Hoffmann & Campe

Der Poet der kleinen Dinge

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