An den Flüssen, die strömen
- Luchterhand
- Erschienen: Januar 2011
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- Lissabon: Dom Quixote, 2010, Titel: 'Sôbolos rios que Vão', Originalsprache
- München: Luchterhand, 2011, Seiten: 222, Übersetzt: Maralde Meyer-Minnemann
Was Literatur vermag
Diesen Autor zu lesen, erfordert Mut. Er zieht uns nicht gleich mit dem ersten Satz in eine Geschichte, die wir unbedingt zu Ende lesen wollen, weil sie uns verspricht, uns bestens zu unterhalten, uns mit ihrem Humor, der Spannung zu fesseln. António Lobo Antunes ist einer der großen europäischen Literaten, die in ihren Romanen unsere Zeit als etwas vollkommen Unübersichtliches zu beschreiben wagen. Zwar besitzt jedes seiner Bücher ein Thema, das vielfältig gespiegelt wird, doch es ist die Vielzahl der Stimmen, die Unruhe in der Sprache, die Antunes zu einem einzigartigen Schriftsteller machen. Das setzt eine andere Leseerwartung voraus. Wir verfallen seinen Geschichten nicht gleich, sie sperren sich, damit wir sie freilegen.
Egal ob er sich den Drag Queens der Lissaboner Nachtclubszene, dem Fado, den portugiesischen Kriegsverbrechen in Angola, dem Salazar-Regime oder dem Gott des Tangos Carlos Cardel widmet, immer splittert er seine Geschichten auf, und bietet mehr als nur einen Blick auf die Ereignisse. Sein neuer Roman mag sein persönlichster sein. Er geht einher mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Autors und beschreibt den Krankenhausaufenthalt eines gewissen "Senhor Antunes", bei dem wir nicht den Fehler begehen sollten, ihn eins zu eins mit dem Autor zu setzen.
Zu überbordend ist seine schriftstellerische Fantasie, die wie geschaffen für das Zeitalter des Internets scheint. António Lobo Antunes bündelt Erzählstränge zu einem Netz. Auch in "An den Flüssen, die strömen" dringen die Stimmen, die Erinnerungen mitten in den Alltag einer Darmkrebsoperation und unterwandert die Beobachtungen eines Patienten, der es gewohnt ist, hinzuhören und das Leben aus Bruchstücken zusammenzusetzen.
Was scheinbar hin- und her springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen tatsächlichem Dialog mit den Ärzten und erfundenen Gesprächen gleicht einem feinen Gewebe, das dem Nervengespinst eines Erkrankten unterworfen ist, der um sein Leben fürchtet. Wie im Delirium verschwinden die Punkte in den Sätzen, wird das Geschehen nur durch Kommata zusammengehalten, treibt der Autor die Verwirrung voran und erweist sich mit verzweifeltem Blick in den Abgrund als jemand, der sich überlässt. Den Fragen. Den vermeintlichen Antworten. Dem Infragestellen, wem er wirklich trauen kann.
Menschen, die ähnliche Krisensituation durchgestanden haben, werden sich daran erinnern, wie es im Kopf zu rauschen beginnt. Alles dringt gleichzeitig auf einen, als wäre dies der letzte Moment, in dem jeder seine Wichtigkeit unter Beweis stellen möchte. Trotz allem fühlt man sich gelähmt, ausgesetzt. Es gibt Probleme zu lösen, Fehler einzugestehen, Hass in den Griff zu bekommen und sich an die Liebe zu erinnern.
Dafür findet António Lobo Antunes nicht nur eine Sprache, er zieht auch gleich einen zweiten Boden ein. Meisterhaft zeichnet er Risse, Maskeraden, Facetten, Lügen wie Ängste nach. Tag für Tag. Vom 21. März bis hin zum 4. April. Doch es ist nicht das Tagebuch eines Todgeweihten, vielmehr eine orchestrale Untermalung des Glaubens an die Hoffnung, die sich in dem Augenblick umso heftiger zur Wehr setzt, wo das Leben in Gefahr gerät.
Würde man die Geschichten aufspalten, ergäbe sich eine Vielzahl von meisterhaften Kurzgeschichten, die biografisch aus dem Leben dieses "Senhor Antunes" berichten. Die Kunst des Autors jedoch besteht darin, es zuzulassen, dass die Zeit nicht in gleichförmigen, auf einander folgenden Bahnen verläuft, sondern sich Gedanken und Erinnerung aufdrängen, wann es ihnen passt. Sei es als Schnipsel, sei als längere Passage.
António Lobo Antunes zu lesen bedeutet, man kann sich nicht einfach einem Autor überlassen, der das schon für einen machen wird, in dem er sein Handwerk versteht, weil er seine Leser von Kapitel zu Kapitel führt. Wem das zu anstrengend ist, wer sich dem Rausch nicht hingeben will, weil er den Überblick verliert, wer gerade spricht, an welchem Ort sich die Geschichte befindet, der sollte den Roman ruhig zur Seite legen und später weiter lesen. Die Stimmen sind da. Sie erwarten von einem Leser, dass er zum Stillstand kommt.
Thomas Wolfe schrieb in Schau heimwärts, Engel:
Die minutengesättigten Tage summen wie Fliegen heimwärts in den Tod, und jeder Moment ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten.
António Lobo Antunes ist der Chronist der Minuten. Wie kein Zweiter weiß er, vom Leben und vom Sterben zu erzählen.
António Lobo Antunes, Luchterhand
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