Ein wahrhaft zauberisches Buch
"Das Leben ist wie ein Wandteppich, an dem man Tag für Tag weiterknüpft mit Fäden in vielen Farben, manche davon sind grob und dunkel, andere zart und strahlend, jeder Faden ist zu gebrauchen."
So beschreibt Allende in ihrem neuen Roman "Mayas Tagebuch" das Leben ihrer Protagonistin Maya Vidal, der Tochter eines chilenischen Piloten und einer dänischen Flugbegleiterin. Da sowohl die kurze Ehe ihrer Eltern als auch die Schwangerschaft ein Versehen waren, wird Maya eine Woche nach ihrer Geburt kurzerhand bei ihrer Großmutter Nini abgegeben. Diese floh nach dem Sturz von Salvador Allende aus Chile und lebt nun mit ihrem zweiten Ehemann Pop in Berkeley. Das Mädchen wächst behütet auf, doch "als Maya 16 wurde, brachten die katastrophischen Naturgewalten ihr Blut in Wallung und trübten ihr den Verstand." Ihr über alles geliebter Pop stirbt. Maya verliert den Halt und gerät auf die schiefe Bahn. Nach einem Unfall im Drogenrausch wird sie in ein Internat abgeschoben, sie haut ab und gerät in Las Vegas vollends unter die Räder. Sie lebt als kriminelle Drogenabhängige monatelang auf der Straße, prostituiert sich und verwahrlost. Quasi in letzter Sekunde wird sie von einer Krankenschwester aufgenommen, die sie gesundpflegt und Mayas Familie informiert.
Bis hierhin liest sich "Mayas Tagebuch" wie ein amerikanischer Thriller, doch Allende wäre nicht Allende, wenn sie die wechselvolle Geschichte und Kultur ihres Heimatlandes Chile nicht auch in ihrem neuen Roman verwoben hätte. Aufgrund ihrer kriminellen Aktivitäten muss Maya Anfang 2009 verschwinden, und was eignet sich hierfür besser als ein chilenisches Eiland im Nirgendwo? Auf Chiloé lebt neben 300 Einwohnern auch Manuel, ein Freund Ninis aus früheren Tagen. Zunächst skeptisch angesichts der Einfachheit und Kargheit des dortigen Lebens gewöhnt Maya sich jedoch dank der Liebenswürdigkeit der Bewohner dieser "zauberischen" Insel schnell ein. Sie lernt Jahrhunderte alte Riten der Chiloten kennen, bringt Kindern anhand eines steinalten Lehrbuchs Englisch bei und findet es irgendwann normal, mit Mütze zu schlafen, damit sich die Fledermäuse nicht in ihren Haaren verfangen. Kurzum, sie findet Heilung. "Als ich hier ankam, hielt ich Chiloé für den Arsch der Welt, aber inzwischen weiß ich, es ist der Nabel."
Isabel Allende ist die Nichte zweiten Grades von Salvador Allende, des chilenischen Präsidenten, der 1973 durch einen blutigen Militärputsch gestürzt und getötet wurde. Als kritische Journalistin musste sie damals mit ihrer Familie ins venezolanische Exil fliehen. Diese blutige Epoche ihres Heimatlandes wird in "Mayas Tagebuch" von Manuel Arias verkörpert, einem regimekritischen Journalisten, der unter der Diktatur Pinochets brutal gefoltert wurde und sich seither nicht mehr in geschlossenen Räumen aufhalten kann. Maya lassen Manuels nächtliche Albträume keine Ruhe, sie stöbert in den Archiven Santiagos, bis sie herausfindet, welche unvorstellbar grausamen Dinge damals geschehen sind.
30 Jahre nach dem Erscheinen von "Das Geisterhaus" hat Isabel Allende eines ihrer besten Bücher geschrieben. Die bekennende Feministin zeichnet mit Maya eine starke, sympathische Frauenfigur, die trotz widrigster Umstände niemals ihre Würde und die Kraft zum Weitermachen verliert. Auch die aussichtsloseste Situation birgt ein Fünkchen Hoffnung. In dem formalen Rahmen eines Tagebuchs, das Maya schreibt, zeigt Allende auf knapp 440 Seiten ihr literarisches Können und beweist, dass sie dank ihrer Phantasie und Sprachgewalt eine der zu Recht beliebtesten lateinamerikanischen Schriftstellerinnen ist. Geradezu virtuos springt sie zwischen Mayas beiden Leben, die kontrastreicher kaum sein könnten, hin und her, berichtet parallel vom menschenverachtenden Drogenmilieu in Las Vegas und dem Inselidyll Chiloé, wo sogar Ziegen in Ruhestand gehen können. Der Autorin gelingt es, stets die Balance aufrechtzuerhalten zwischen Poesie und knallhartem Realismus, zwischen Zartheit und Brutalität, zwischen extrem Irdischen und spirituell Überirdischem. Und mittendrin blitzt immer wieder erlösender, augenzwinkernder Humor durch. Allende hat mit "Mayas Tagebuch" ein überirdisch schönes, ein "zauberisches" Buch voller Poesie und Hoffnung geschrieben. Isabel Allende at her best.
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