Alles was neu im Leben war, sollte so sein.
Obwohl die Schiffspassagen bezahlt sind, auf jeden ein anderes Schicksal wartet, bewegen sich die drei Freunde Mynah, Ramadhin und Cassius wie blinde Passagiere an Bord. Sie fahren übers Meer von Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, nach England. Als der Ich-Erzähler Michael sich der Oronsay vor der Abreise nähert, beschreibt er den ersten Eindruck, als sei der Küste eine weitere Ortschaft angefügt worden. Das Staunen über das Fremde, das ihn erwartet, wird ihn von nun an durch den Roman begleiten.
Die Freunde schleichen sich nachts vom Touristendeck zum Pool der Ersten Klasse. Sie bedienen sich heimlich an deren Büfetts und speisen genüsslich unter der Plane eines Rettungsbootes. Allmählich tauchen sie in das Leben von Menschen ein, denen sie sonst nicht begegnen würden. Sei es ein merkwürdiger Mitbewohner mit Namen Mr. Hasties, der nach zwölf in der Kabine einen Kartentisch aufstellt, um mit Gleichgesinnten eine Partie zu spielen. Sei es der todkranke Philanthrop und Millionär Sir Hector de Silva, der von einem Fluch gezeichnet ist und mit Hilfe eines ayurvedischen Helfers an Bord am Leben gehalten wird. Sei es ein geheimnisvoller Gefangener, der ab und zu Luft schnappen darf, und nach dem Michael in späteren Jahren auf den Steckbriefen der Welt Ausschau halten wird. Oder die hübsche Cousine Emily, die den Männern an Bord den Kopf verdreht, bis sie sich in einen Wahrsager verliebt.
Es ist dieser Mikrokosmos, der die Freunde fasziniert und der sie anzieht, weil er ihnen zeitlich begrenzt Zugang gewährt. Sie streunen über die Decks wie durch einen Zoo und verweilen bei jedem, um mehr über dessen Lebensgeschichte herauszufinden. Ondaatje beweist hier, dass er es meisterhaft versteht, Schicksale anzureißen.
Er hat jedoch keinen Reiseroman geschrieben. Hauchdünn durchwebt er seine Geschichte mit Wehmut. Als einen farbenfrohen Rückblick auf Momente in Michaels Leben, die Spuren hinterlassen haben. Wenn Michael am Ende von einem Lotsenschiff geleitet die dunkle Themsemündung erreicht, schrecken ihn die Relikte des frühen Industriezeitalters, die er am Ufer ausmacht. Alles Exotische, alles Schillernde versinkt. Vorbei sind die Zeiten, in denen er sich freiwillig ans Deck fesseln ließ, um einen Sturm zu erleben? Auch wenn die Bruchlandung in der Realität danach hart war, als der Kapitän ihm vorrechnete, was der Einsatz, sie zu retten, seine Eltern kosten würde. Die Zukunft denkt ihn Zahlen, nicht in Abenteuern.
Ondaatje versteht es seine Romane exotisch zu bebildern. Sie mit Gerüchen aufzuladen. Er vermischt in "Katzentisch" einmal mehr Vergangenheit, Gegenwart. Fast ist es so, als beabsichtige er, seinen Lesern vor allem eines nahezubringen, das Leben in allen Momenten zu genießen, es festzuhalten, um sich gegen die Dramen zu wappnen, die unweigerlich auf einen warten.
Innerhalb weniger Sekunden werden die Freunde sich bei der Ankunft aus den Augen verlieren und nur die verklärende Erinnerung an diese Reise wird bleiben. So wie in "Der englische Patient" die Erinnerung an eine große Liebe heraufbeschwört, erzählt der Autor in "Katzentisch" von einem letzten Abenteuer, bevor es Zeit wird, ins eigene Leben zu verschwinden.
Nur für einen kurzen Moment, erlaubt es einem die Zeit, still zu stehen.
Es lohnt sich nicht, zu trauern, dagegen aufzubegehren. Egal, wie viel Geld einer besitzt, ob ihm das Glück an den Fersen klebt, er die große Liebe erfährt oder sich irgendwie durchhangelt, die Zeit rast. Sie bahnt sich auch auf der dreiwöchigen Schiffsreise der Oronsay einen Weg durchs Meer. Es ist für alles gesorgt. Essen, trinken, schlafen und nur selten kommt Langeweile auf.
Michaels Reise von Colombo zu einer Mutter, die ihn vor fünf Jahren zurückgelassen hat, geht mit dem Gefühl eines Verlusts einher. So unbedarft kann er sie kein zweites Mal reisen. In England strandet das, was er einmal war. Doch beneidet wir ihn darum, an Bord gewesen zu sein.
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