Mutmaßungen eines Nicht-Zynikers
Nach Shakespeare nunmehr Balzac und Dumas. Javier Marías liebt das Spiel mit den großen Vorbildern und schafft es wie kein zweiter, seine Geschichten an den bereits erzählten zu spiegeln. Dass die Liebe an den Tod gebunden in vielen seiner Romane eine so wichtige Rolle spielt, nicht selten ein Verbrechen verursacht, unterstreicht, wie sehr dieser Autor dem Leben zu getan ist. Er rückt so nahe an seine Figuren heran, dass er es einfach nicht erträgt, ihren Geheimnissen nicht auf den Grund zu gehen.
Schießt sich in Mein Herz so weiß eine Braut ins Herz, wacht in Morgen in der Schlacht denk an mich ein Mann nach einem Rendez-Vous neben einer toten Frau auf, entspringt die Liebe in Javier Marías neuem Roman auch diesmal der Sehnsucht nach dem Glück der anderen. Wir alle kennen das. Wir sitzen in einem Café oder beobachten auf einem Bahnsteig ein glückliches Paar, das offenbar alles richtig macht. Nicht anders ergeht es der Lektorin Mariá. Neid, Sehnsucht, Verlangen und schon beginnt, das Karussell sich zu drehe: Maria spürt, Miguel und Luisa haben all das, was sie nicht hat. Das Glück ist jedoch bei Javier Mariás auf seltsame Weise stets vergiftet. Es offenbart die Bitterkeit eines zweiten Gesichts, eines Nachsatzes, einer überraschenden Wendung. In Die sterblich Verliebten erfährt Maria aus der Zeitung, dass Miguel erstochen wurde
Javier Marías ist der Chronist, der sich auf Annäherungen versteht. So verwundert es nicht, dass Luisa und Maria sich kennenlernen, und Luisa durch sie auf Javier trifft. Es entspinnt sich zwischen den Dreien eine fehlgeleitete Anziehung zwischen Affäre und uneingestandener Liebe, die einem Arthur Schnitzler zur Ehre gereifte. Über allem jedoch schwebt der Tod, der Kummer, der Verlust. Wie weiter leben, wenn wir erst einmal aus der Bahn geworfen worden sind? Was geschieht mit denen, die für tot erklärt wurden oder sich selbst dazu verurteilt haben? Was, wenn sie zurück ins Leben drängen?
In dem der spanische Autor Balzacs berühmte Novelle vom "Oberst Chabert" zitiert, sie bis ins die letzte Verästelung hinterfragt, wägt er den Gedanken einer zweiten Chance ab. Was, wenn doch alles anders ist, als wir glauben, dass es ist? Was, wenn die Toten noch leben, die Liebe sich als stärker erweist? Was, wenn die Katastrophe nur ein Irrtum war? Schon taucht die Hoffnung auf. Mariás, alter Ego, die Lektorin Mariá, ermutigt sich selber, in dem doch sein könnte, was nicht sein kann: dass die Filou Javier sie liebt, sie nicht nur im Bett haben will, um sich zu trösten. Wohingegen Javier dem Spruch vertraut, dass die Zeit alle Wunden heilt, und seine angebetete Luisa nach einer gewissen Trauerarbeit zu ihm findet. Alle Figuren richten sich im Leben ein. Es hat so zu sein, wie sie es sich wünschen, es hassen, es lieben wollen. Egal, was auch passiert.
Doch dann reißt das so fein gesponnene Netz, als Maria herausfindet, dass Javier Miguel hat ermorden lassen. Eine der faszinierendsten Stellen im Roman dreht sich um die Frage, ob wir jemand damit beauftragen dürfen, einen anderen Menschen zu töten, und wie groß die Gefahr ist, entdeckt zu werden. Denn eigentlich ist es doch so, wir würden jeden töten, der uns die Liebe wegnimmt, wenn wir uns nicht vor der Strafe fürchteten. Der heimliche Held ist also Javier. Oder? Er hat es gewagt.
Javier Marías Figuren schleppen ihre Gedanken wie ein Glocke knapp an der Depression entlang mit sich herum. Sie lesen in ihren Gesprächen die Spuren auf und driften allein mit sich in Verklärung ab. Es werden keine Fragen aufgeworfen, es werden Antworten aufgesammelt, um sich zu beruhigen.
Von leichter Hand gibt der Autor sich dem menschlichen Spiel hin. Auch wenn seine langen Sätze eine gewisse Leseerfahrung voraussetzen, besitzen sie Sogwirkung. Alles wird wieder und wieder durchdacht. Wer eine unglückliche Liebe erlebt, einen Verlust erlitten hat, kennt diesen Moment, des manischen Nichtloslassenkönnens. Immer und immer wieder müssen die Fakten beleuchtet werden. Immer und immer wieder wird das Spiel betrieben, warum alles nicht so sein kann, wie es sein soll.
Bis es eines Tages endet. Dann war es derjenige nicht wert; dann handelte es sich lediglich um eine Phase in unserem Leben; dann verstehen wir auch nicht, was wir da eigentlich mit uns gemacht haben. Wir biegen uns das Leben zu recht. So auch im Roman: Miguel war krank. War es nicht eine Art Gnadenakt, ihn töten zu lassen? Eine Art Sterbehilfe?
Wer sich manchmal gefragt hat, wie Menschen angesichts eines Verbrechens nur schweigen können, Die sterblich Verliebten bietet nonchalant eine Antwort darauf. Weniger staatstragend als Shakespeares gewaltige Monster von Macbeth über Hamlet bis hin zu Richard III. Weniger auf einen Cliffhanger geschrieben wie bei Dumas. Nahe kommt er eher Balzac und seiner "Comédie Humaine". Auf Javier Marías meisterhafter Bühne des seelischen Kammerspiels gewinnen seine Liebenden an imposanter Größe, wenn sie mit sich selbst ringen, egal wie misstrauisch oder liebestoll sie sich auch belauern.
Einmal mehr betreten wir mit Die sterblich Verliebten Javier Mariás magisches Feld des Möglichen und verfallen der Umkehr eines Wortspiels: dass nur der, der unsterblich verliebt ist, die Liebe kennt.
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