Ein Kind seiner Zeit
Nein, rührselig ist die Geschichte von der Briefkastentante – in Wahrheit ein Mann – keineswegs. Wer sich von Titel, Cover und teilweise auch vom Klappentext beeinflussen lässt, wird bald irritiert nochmals genauer nachlesen, worum es denn in diesem Buch tatsächlich gehen soll. Versprochen wird da ein Roman, der einerseits die Briefkastentante beziehungsweise den perspektivenlosen Schreiberling, der dahinter steckt, in eine Sinnkriese führt und der andererseits die Machenschaften von Pseudoberatung über die Presse aufdeckt. Doch der faule Zauber hinter der Miss Lonelyhearts kann nicht mal als solcher durchgehen: Die Identität des Schreibers, der in ihre Rolle schlüpft, ist hinlänglich bekannt. Was also bleibt da noch übrig von Machenschaften und Irreführung?
Der vermeintlich ambitionierte Schreiber lässt sich von den herzerweichenden Briefen nur mäßig beeindrucken. Er hätte sehr wohl ein Patentrezept bereit, das er all den Hilfesuchenden anbieten könnte: Den Weg zu Gott. Doch der ist ihm verwehrt. Eine solche Empfehlung würde sich nicht auflagensteigernd auswirken, sagt Shrike, Chef und Enfant Terrible. Er will, dass Miss Lonleyhearts zynisch ist bei ihren Ratschlägen, ihnen unbrauchbare und undenkbare Antworten um die Ohren haut. Miss Lonleyhearts, selber ein dem Leben abgewandter Mensch, verliert dadurch den einzigen Anhaltspunkt, mit der Situation umzugehen.
Das düstere Bild, das Nathanael West hier zeichnet, würde an sich gut zur heutigen Zeit passen. Und doch gibt es zu viele Abweichungen des bekannten Alltags. Spätestens hier wird der Leser gewahr, dass Miss Lonleyhearts nicht etwa in einem absolut rückständigen Redaktionsbüro arbeitet, sondern aus einer völlig anderen Zeit stammen muss. Tatsächlich ist die Geschichte bereits 1933 entstanden. Führt man sich dies erst mal vor Augen, bekommt das Ganze eine völlig neue Dimension. Die Auseinandersetzung mit Gott, die etwas angestaubt wirkenden Sexphantasien und die sich in mangelnder Perspektive bewegende Gesellschaft passen in die Vorkriegsjahre. Nathanael West ist ein Kind seiner Zeit – und er macht das in seinem Roman deutlich.
Vor dem Hintergrund der 30er Jahre bekommt "Miss Loneleyhearts" eine neue Dimension. Nathanael West lehnte sich weit aus dem Fenster heraus und provozierte. Richtig deutlich wird dies durch die zahlreichen Fußnoten, die auf einzelne Aussagen oft detailliert eingehen und den Zeitgeist der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts verdeutlichen. Allerdings verlangen gerade jene Fußnoten vom Leser ein vertieftes Interesse an den Hintergründen. Denn sie sind vor allem zu Beginn recht häufig anzutreffen und machen regelmäßiges Nachblättern notwendig. Dies dürften vor allem Leser auf sich nehmen, die sich ernsthaft mit dem Hintergrund auseinander setzen wollen.
Miss Loneleyhearts ist also weder rührselig noch vermag es, mit Emotionen zu brillieren. In einer knappen, sachlichen Sprache gehalten ist es schon eher ein Dokument denn ein Roman. Unterhaltend ist dieses an Satire grenzende Werk nicht, eher informierend. Oder aufwühlend – sofern sich der entsprechende Leser ganz auf den geschichtlichen Hintergrund des Romans einlassen konnte. Denn Nathanael West spiegelt wider, was wenige Jahre später zu einem der schlimmsten Ereignisse der jüngeren Geschichte führen würde. Hilfreich sind die Anmerkungen zum Schluss des Romans. Sie tragen viel zum Verständnis bei und geben dem Leser wichtige Anhaltspunkte bei der Interpretation des Stoffes.
Hinter dem eher unscheinbaren Auftritt verbirgt sich also eine kleine Perle – wenn auch nicht sprachlicher Natur. Es ist eine wiederkehrende Geschichte, die gerade deshalb so alarmierend wird. Denn was 1933 in die Entwicklung passte, könnte – adaptiert auf die aktuellen Gepflogenheiten – auch in die heutige Zeit passen.
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