Den Geschmack Liguriens auf der Zunge und eine bestechend schöne Liebesgeschichte.
Sie fühlt sich in einer Beziehung gefangen. Er hat den Glauben an sich selber verloren. Sie und Er begegnen sich unter denkbar ungünstigen Umständen. Denn er – genauer der einstige Erfolgsautor Daniel Deserti – knallt mitten in Mailand von hinten auf den Wagen, in dem sie – Clare Moletto – mit ihrem Freund Stefano Panbianco sitzt. Zunächst sind es nur die Umstände, die die beiden miteinander verbinden. Sie möchte helfen, er ist verletzt. Später sind es die Frage nach der Versicherung, die Begegnung mit seinen Kindern, die bei der geschiedenen Frau leben aber für ein paar Tage nach Italien gekommen sind, ein vergessenes Buch im Zug. Clare und Daniel umkreisen einander in immer engeren Radien. Und aus der zufälligen Begegnung, dem Wunsch nach Klärung und der Neugier nach dem Grund für einen abrupten Schluss im Buch wächst das Bedürfnis, dem anderen sein Leben zu öffnen. Weder Daniel noch Clare verstehen zunächst, was mit ihnen geschieht. Sie lassen sich treiben, schlittern sozusagen in die Begegnung. Und erkennen, dass sie und er in der Lage sind, das Leben neu zu ordnen, aus den Beschränkungen auszubrechen.
Ja, Andrea de Carlo hat eine Liebesgeschichte geschrieben. Er tat dies unvergleichlich poetisch. Es sind nicht die großen Gefühle, die das Geschehen bestimmen. Oder vielleicht doch – nur dass die großen Gefühle sich bei Andrea de Carlo ganz anders anfühlen, als andernorts. Subtil lässt der Autor die beiden Protagonisten aufeinander zugehen. Sich begegnen, sich verstehen. Und sich trotzdem misstrauisch und fasziniert zugleich gegenseitig auf Abstand zu halten. Genau dieses höchst menschliche miteinander Umgehen macht den Roman zu einer bestechend schönen Liebesgeschichte.
Andrea de Carlo schöpft aus dem Vollen. Auch, was seine üppige Erzählkraft betrifft. Er versetzt seine Leser in ein lautes, stinkendes aber nichtsdestotrotz faszinierendes Mailand. Er lässt sein Publikum unter der sommerlichen Hitze Norditaliens stöhnen, nimmt sie mit auf die Reise mit einem Zug, in dem sich die Hitze staut, weil sich die Fenster nicht öffnen lassen. Und genau dann, wenn man glaubt, den salzigen Geschmack des Schweißes auf der Lippe zu schmecken, legt er den Lesern die wohltuende Frische der ligurischen Küste zu Füßen. Er macht damit nicht nur jenen ein Geschenk, vor deren geistigem Auge beim Namen "Ligurien" bunte Bilder einer bestechend schönen Landschaft auftauchen. Auch alle anderen sind eingeladen, sich den herben Geschmack Liguriens auf der Zunge zergehen zu lassen. Spätestens jetzt, im verwilderten Garten ihres kleinen, bescheidenen Häuschens, wird Clare die Leser auf ihrer Seite wissen. Wirkt sie zunächst wie eine unentschlossene und kaum fassbare Lebenskünstlerin, zeigt sich in Ligurien ihre Tiefe. Einnehmend und auf seine schräge Art unwiderstehlich wirkt aber auch Daniel Deserti auf die Leser. Die unverfrorene Art, die er sich aus den erfolgreichen Jahren seines Autorendaseins bewahrt hat, macht ihn hier zu einem liebenswürdigen, großen Jungen. Und mancher wird sich beim Wunsch ertappen, selber auf der Terrasse in diesem wilden Garten zu sitzen und den perlenden Geschmack eines Prosecco auf der Zunge zu spüren.
Nun könnte der Mailänder Andrea de Carlo in Verdacht geraten, die Geschichte seiner Heimat auf den Leib geschrieben zu haben und sie als eine Art Werbung für die wilde Schönheit der ligurischen Küste zu nutzen. Doch weit gefehlt. Ebenso tiefsinnig sind später seine Beobachtungen und Beschreibungen etwa der Provence, wo er das Kreischen der Zikaden in das Zirpen der Grillen verwandelt und das herbe Ligurien einer lieblicheren Region Platz machen lässt. Es braucht nicht viel, bis man sich auch hier wieder heimisch fühlt und gar der Wechsel ins kühle Kanada gelingt dem Autor, dem man seinen Hintergrund als Fotograf und Maler deutlich anmerkt.
Andrea de Carlo schenkt seinen Lesern mit Sie und Er tatsächlich eine Liebeserklärung. Eine Liebeserklärung ans Leben und den befreienden Rat, dieses eine Leben auch tatsächlich zu nutzen, selbst wenn das bedeutet, gegen Konventionen zu handeln.
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