Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren. - René Char
Nichts beschreiben Schriftsteller so gerne, wie den Zustand, dass etwas verloren gegangen ist. Die Liebe, die Jugend, bei Marcel Proust gar die Zeit. Zumeist ist es ein Zustand der Melancholie, der einen beim Lesen befällt. Da trauern wir um etwas, das nie eingetreten ist oder zwar geschehen ist, aber nie zurückkehrt, oder wir empfinden uns gleich einer ganzen Generation zugehörig, für die Scott F. Fitzgerald den treffenden Ausdruck der "Lost Generation" erfand. Ein Begriff, der in Abwandlung als Generation X, Generation Golf oder womöglich im Rückblick auf unser Jahrzehnt einmal als die Burn-out-Generation Einzug halten wird.
Der 1945 in Boulogne-Billancourt, unweit von Paris geborene Patrick Modiano hat einen Ort für dieses Gefühl gefunden: das "Le Condé", ein Café, und dürfen wir Alex Capus glauben, versteht Modiano wie kein zweiter Paris französisch zu besingen, was immer das auch heißen mag. Das "Savoir-vivre", das "Laisser-faire" und all die Begriffe, die einer deutschen Seele so ans Herz wachsen, denkt er an die Cote d’Azur, an französischen Käse und Wein, an die Hauptstadt aller Hautstädte, wenn man Pariser ist. Vier Stimmen, vier Leben versammelt der Autor um seine Heldin Louki, alias Jacqueline Delanque, alias Madame Choureau, die in dem erlauchten Kreis von Stammgästen des Condés auftaucht.
Es ist das Gefühl, nichts zu verpassen, von einem Caféhaustisch den Passanten beim Flanieren zuzusehen, um plötzlich festzustellen, dass es ja schon vier, sieben, neun Uhr ist und dass man gar nicht mitbekommen hat, wie die Zeit vergangen ist. Dabei hatten sie alle doch noch so viel vor. Nun ja, dann halt morgen. Oder übermorgen. Wo ging das besser, als in den Sechzigern in St. Germain. Der Pariser Tourismus lebt geradezu von diesem versunkenen Lebensgefühl, das jeder für sich an der Seine aufzufinden hofft. Wer möchte nicht einer Louki begegnen, über sie mutmaßen und sie anziehend finden.
Patrick Modianos hoch gelobter Stil, seine mit zahlreichen Auszeichnungen versehenen Romane – unter anderem 1978 mit dem Prix Concourt für Die Gasse der dunklen Läden – fängt dieses durch die Straßen streunende, die Welt anhand eines Espresso analysierende Lebensgefühl ein. Zwar steckt hinter jeder seiner Stimmen manch vermeidlicher Schicksalsschlag oder ein Hauch von Tragik, doch wächst sich das Ganze nicht zum Drama aus. Es ist, wie es ist. Das Leben geht irgendwie weiter. Das schlimme Ende ist aus der Erinnerung weich gezeichnet.
Loukis Mutter war Platzanweiserin im Moulin Rouge. Louki ist als Kind immer wieder weggelaufen. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Aus ihrer eigenen Ehe flüchtet sie schon nach einem Jahr. Das wäre der Stoff für eine knallharte Selbstfindung. Modiano hält es lieber mit Truffaut, der hinter dem Schwarz-Weiß-Verlauf mancher Kindheit die Leichtigkeit des Versuchs entdeckte, mit sich irgendwie ins Reine zu kommen. Nicht selten, weil da plötzlich eine Liebe auftaucht. Bei Louki der fast Schriftsteller Roland, an dessen Seite sie sich durch Paris treiben lässt, obwohl ihr verlassener Ehemann ihr längst einen Detektiven an die Fersen geheftet hat.
Es gibt keinen Lebensplan, der den Stammgästen des "Cafés der verlorenen Jugend" vorgegeben ist, aus dem sie ausbrechen, von dem sie sich befreien müssen. Sie reden, rauchen, trinken und setzen auf den Moment, weil er Sicherheit verspricht. So verstreicht die Zeit ungenutzt. Geht so was gut aus?
Es bedarf der Stimmen eines Studenten, des Detektivs, des Schriftstellers Roland und Loukis eigener Stimme, um ein Geheimnis einzukreisen, das abseits des Lebens der Boheme unentrinnbar erscheint. Leider verfällt die Geschichte zwischendurch allzu sehr dem platten "amour fou", dem obsessive Charme der nostalgischen Verklärung und setzt ganz auf den untergegangen Lokalkolorit einer Zeit im Umbruch. Louki erscheint wie jemand, dem man kennenlernt, ihr eine Zeit lang zuhört und gleich wieder vergisst.
Aber wir haben uns die Zeit mit ihr vertrieben.
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