Der Ort auf der Landkarte, der Quintana Roo hieß.
Wenn Joan Didion von den "Blauen Stunden", von jenem Zeitraum erzählt, in dem die Dämmerung in Kalifornien lang und blau wird, erscheint das Licht , als sei es immer schon dagewesen, nur habe es niemand so wie sie zu beschreiben vermocht. Sogleich sagen wir uns: Ja genau, das kenne ich. Das habe ich an jenem Strand, in der und der Straße, abends um halb Sieben, um Acht, um Zehn erlebt. Es ist mit nichts zu vergleichen. Es brennt sich ein. Und es ist flüchtig. Es taucht auf, wenn wir von etwas lassen müssen. Und sei es nur vom Tag.
Joan Didion hat ihren neuen Roman Blaue Stunden ihrer Adoptivtochter Quintana Roo gewidmet, die erst ins Koma fiel und im August 2005 nach zahlreichen Aufenthalten in Intensivstationen starb. Gerade mal anderthalb Jahre nachdem Didion ihren Ehemann John Dunne verlor, dessen Tod sie in dem Buch Das Jahr magischen Denkens literarisch bewältigte. Fünf Jahre später, an Quintanas vermeintlichen siebten Hochzeitstag beginnt Didion, über sie zu schreiben.
Der Verlust wiegt schwer, ist vollgestopft mit Erinnerungen, kaum zu tragen und doch gelingt es der Autorin kein Schmerzensbuch zu verfassen. In Blaue Stunden erscheint der Tod nicht wie ein schwarzes Loch, wie eine nie endende Depression. Das Buch nähert sich eher einem jener Einschnitte, die das Leben für einen bereithält, und von denen an vieles neu betrachtet werden muss. Die Autorin entgeht so der Versuchung, ein Tagebuch des Weiterlebens zu verfassen.
Während wir Quintanas Kindheit in zu vielen Hotels, auf zu vielen Reisen begleiten, spielt sich das Leben einer privilegierten Tochter aus prominentem Haus vor uns ab. Zu früh der Kindheit beraubt, zu sehr zur Vertrauten gemacht. Quintanas Verlorenheit, wirft Didion sich vor, ist ihr womöglich in diesen bewegten Zeiten entgangen. Sie beschreibt nicht nur den Verlust, auch sich selbst als Mutter, die sie einmal war. Die womöglich die sich verstärkende Borderline-Persönlichkeit Quintanas nicht hat sehen wollen.
Eben noch war Didion jene junge Frau, die sich davor fürchtete, schwanger zu werden, und bei dem leisesten Anzeichen zum "Vogue"-Arzt rannte, um eine Abtreibung in Erwägung zu ziehen, kurz darauf ist sie jene besorgte Adoptivmutter, die in Tucson alles daran setzt, dass Quintanas wahre Mutter sie an einem Filmset nicht ausfindig macht.
Quintanas Fragen angesichts der Wahlmöglichkeiten von Adoptiveltern, sich das passende Kind auszusuchen:
"Was, wenn du nicht zu Hause gewesen wärst, als Dr. Watson anrief – Was, wenn du ihn nicht im Krankenhaus hättest treffen können – Was wenn es auf dem Freeway einen Unfall gegeben hätte – Was wäre dann aus mir geworden?"
drängen beim Lesen geradezu den Umkehrschluss auf: Was wäre aus Joan Didion geworden? Was, wenn sie das blaue Licht nicht gesehen hätte? So erzählt die Autorin auch davon, dass Erinnerungen kein Trost sind, dass sie nichts zurückbringen. Nicht für eine Sekunde. Wir haben es erlebt. Wir haben es gehört. Wir haben es gesehen. Aber wir besitzen es nicht. Didions Roman beschreibt das Gefühl, wie es für einen Menschen ist, wenn er sich sich selbst stellen muss. Wie er es aushält, sich verloren zu haben, nachdem etwas in ihm zerbrochen ist, was sich nicht wieder fügen will.
Es tauchen viele prominente Namen am Rande auf, die entlang eines erfolgreichen Lebens einer Journalistin und Schriftstellerin zwangsläufig den eignen Weg kreuzen. Sie alle verwehen schonungslos, werden zu Worthülsen, die einmal von Bedeutung waren und nun nur noch eine Liste ergeben. Inzwischen leidet Didion unter einer Neuritis, eine Neuropathie. Die Ärzte raten ihr angesichts ihres zu geringen Körpergewichts zu Vanillecreme, Proteinshakes, frisch gelegten Eiern. Doch der Tod, der sie mit einer solchen Ratlosigkeit vor dem Leben zurücklässt, schreckt sie nicht mehr. Er gehört zum Leben dazu.
Die Zeit vergeht, und Jean Didion erzählt in einer sprachlichen Vollendung davon, die das Flüchtige in uns einzufangen weiß. Dass wir im Deutschen eine Ahnung von der Brillanz dieser Autorin bekommen, liegt auch daran, das die Übersetzung Antje Rávic Strubel anvertraut wurde.
Ein stiller, zärtlicher Roman über einen Abschied.
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