Alias oder das wahre Leben

  • Berlin: Mattes & Seitz, 2011, Seiten: 330, Originalsprache
Alias oder das wahre Leben
Alias oder das wahre Leben
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Britta Höhne
851001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2012

Wenn die schöne Literatur direkt in den Gulag führt

Den Tod eines anderen Menschen, eines Freundes, biographisch aufzuarbeiten, ist – in der Tat – ein schwieriges Unterfangen. Deshalb lässt Felix Philipp Ingold in "Alias – oder das wahre Leben", einfach weg, was er zu beschreiben nicht in der Lage ist. Ingolds Protagonist bricht nach 50 Jahren erzähltem Leben in der Gedenkstätte Mauthausen zusammen. Kirill Beregow alias Carl Berger haucht seiner Partnerin noch ein "Isa leb!" zu, dann wird es still um den Mann, dessen Nachlass und Leben Felix Philipp Ingold zu einem ungewöhnlichen Buch zusammen gefasst hat.

Über 290 Seiten erstreckt sich der Roman, der genau genommen eine Mischung aus Biographie, Geschichtensammlung des wolgadeutschen Protagonisten Kirill Beregow alias Carl Berger, Interview und Bildersammlung ist. Dabei irritiert nach all den Wirren der erlebten Geschichte, die Ingold zu Papier gebracht hat, dass alles mit folgenden zwei Sätzen endet: "So weit die wahre Geschichte. Jetzt müsste sie bloß noch erfunden werden." Vielleicht liegt darin die Anspielung des 1942 in Basel geborenen Autors Ingold, dass das Leben mancher Menschen derart überladen zu sein scheint, dass sich nur noch schwer eine Wahrheit darin erkennen lässt.

"Alias" ist ein raffiniertes Spiel zwischen Realität und Fiktion und jeder Mensch ist der größte Kenner seiner selbst. Auch ein Carl Berger hat die Mosaiksteinchen seines Lebens so zusammen gesetzt, dass sie sowohl für ihn, als auch für sein Umfeld erträglich sind. Carl Berger ist schließlich nicht nur Carl Berger: Er ist Mensch, Soldat, Sowjetbürger, Übersetzer, Brillenträger, Armeefunker und vieles mehr. Ingold sind die Eckpunkte bekannt, weil Berger und er sich über viele Jahre hinweg geschrieben und miteinander gesprochen haben, aber den wahren Berger kennt eben nur Berger selbst. 

Geboren wurde Carl Berger im Jahr 1922 im zweisprachigen Engels, der Hauptstadt der Wolgadeutschen Sowjetrepublik. Als Stalin 1941 die Republik auflöste, wurde unter seinem Kommando die deutschstämmige Bevölkerung - unter dem Pauschalverdacht der Kollaboration mit dem Feind gestellt - und deren Zwangsdeportation befohlen. Lager in Sibirien und Kasachstan sollten fortan ihre neuen Lebensorte sein – sofern von Leben überhaupt gesprochen werden kann.

Carl Berger war zu dieser Zeit schon als Rekrut im Ausbildungslager in der Nähe Moskaus tätig und blieb so von einer Zwangsrekrutierung verschont. Mit dem Leben in Uniform begann auch Bergers Leben in den Wirren seiner Zeit. Bereits als junger Rekrut, ihm wurde von seiner Rotte ein deutscher Gefangener anvertraut, wurde er zum Mörder. Er erschoss den feindlichen Soldaten  hinterrücks. Eine Tat, die ihn sein Leben lang verfolgen sollte. Viele Jahre Hunger, Kälte, Folter, Straflager – und alles wieder von vorne – folgten.

Als Berger sich in Freiheit wähnte, setzte er seinen Entschluss um und wurde Schriftsteller. Kein freier Schreiber, wie er früh erfahren musste. "Die Sowjetliteratur", heißt es in den Statuten, "ist das Symbol für eine höhere Kultur und hat das unbestreitbare Recht, Vorbild und Zuchtmeister zu sein, zu lehren und zu fordern." Zunächst hält Berger sich daran, wird Vollmitglied im Allsowjetischen Schriftstellerverband, um nach nur wenigen Jahren in den eigenen vier Wänden der staatsfeindlichen Verschwörung angeklagt zu werden.

Anfang 1973 wird Berger wegen guter Führung nach über vier Jahren aus dem Gulag entlassen. Dem folgt ein weiterer Versuch, mit sich und der Freiheit umzugehen – die ihn bis in seine alte scheinbare Heimat Deutschland treibt 

Gut ein Drittel des Buches folgen streng dem  Duktus des Kriegsromanes, wenngleich Ingold auf Grund seines Schreibstiles und seiner Art Pausen einzulegen sehr mit dem Leser spielt. Ein-Wort-Sätze wechseln sich mit verschachtelten ab und machen das Lesen und auch das Verstehen relativ einfach. Was gut ist, da der Inhalt viel wiegt. Dem als "Waffengang" überschriebenen Kriegsteil folgt ein Abschnitt "Karriere" und letztlich die "Heimkehr" ins Land seiner Vorväter.

Ingold ist stilistisch betrachtet ein brillanter Erzähler. Begriffe wie Schuld und Wahrheit verlieren unter seiner Feder an Bedeutung, werden aufgeweicht, zuweilen neu interpretiert. Postmoderne Überlegungen fließen ebenso ein, wie die zahlreichen Rückblenden in das dramatische Leben des Kirill Beregow alias Carl Berger. Berger starb 1993. Vielleicht in der Gedenkstätte Mauthausen, als er seiner jungen Freundin noch einmal zurief "Isa leb!".

Im nationalsozialistischen Konzentrationslager Mauthausen, im heutigen Österreich gelegen,  waren zwischen 1938 und 1945 über 200 000 Menschen aus ganz Europa inhaftiert. Etwa die Hälfte von ihnen wurde dort ermordet. 

Alias oder das wahre Leben

Felix Philipp Ingold, Mattes & Seitz

Alias oder das wahre Leben

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