Übriggeblieben und bestechend ehrlich
Wie fühlten sich die wilden Jahre Ende der 60er, Anfangs 70er an? So mancher ehemalige 68er hat den Versuch unternommen, dieses einzigartige Lebensgefühl jenen näher zu bringen, die diese Zeit nicht selber erlebt haben. Nicht jeder dieser Versuche glückt. Im Gegenteil, oft verliert sich der Erzähler in Banalitäten und spiegelt eher Langeweile denn einen speziellen Zeitgeist wieder. Nicht so Bernd Cailloux. Er gehört zu jenen, die die 68er tatsächlich nochmals aufleben lassen können. Bestechend ehrlich, ohne jede Verklärung im Blick und doch mit der Achtung gegenüber dem revolutionären Lebensentwurf dieser Generation erzählt Cailloux. Er schildert Begegnungen mit Menschen und deren Ideen, er skizziert Hoffnung und Scheitern und bringt ans Licht, wie sich die Generation in ihrem Lebensrausch selber feierte.
Er – der Protagonist Cailloux schlüpft in die Rolle des Erzählers und bleibt damit im Prinzip eine namenlose aber umso näher stehende Figur – kommt um der Liebe willen nach Berlin. Weniger die Frau als die Stadt zieht ihn in Bann und gibt ihm jene Basis, auf der er seinen Lebenshunger in verschiedener Hinsicht stillen kann. Drogen und eine sich an Entwicklung berauschende Gesellschaft ziehen ihn mit sich und lassen ihn in einen Strudel voller Veränderungen geraten. Längst hat er aus den Augen verloren, was er einst glaubte, als Ziel zu erkennen. Und doch ist ihm keine einzige Minute verloren. Denn als Teil der 68er schreibt er Geschichte. Das aber erkennt er erst Jahrzehnte später, als Übriggebliebener. Mit 60 sitzt er in seinem Stammcafé, zieht Bilanz und versteht.
So leicht es Cailloux seinem Protagonisten macht, zu begreifen, so schwer macht er es den Lesern, dasselbe zu tun. "Gutgeschriebene Verluste" ist keine einfache Lektüre. Sie fordert. Wer die Forderung annimmt, wird ein raffiniertes Gericht vorgesetzt bekommen, dessen wahrer Geschmack sich erst nach und nach offenbart, dann aber lange als wehmütige Erinnerung an etwas Außergewöhnliches nachwirkt. Jetzt aber davon auszugehen, sich mit Cailloux auf einen schwer verständlich Gang durch die Zeit begeben zu müssen, wäre grundfalsch. Der Autor geht wohl bestechend ehrlich zu Werke, dies tut er aber in einer schönen, manchmal gar poetischen Sprache. Und so ist es nicht die Umsetzung des Romans an sich, die hohe Ansprüche stellt, sondern es ist die Fülle der Erlebnisse, das Tempo, das beim Erleben angeschlagen wird, die fordern.
Wer sich "Gutgeschriebene Verluste" gönnt, wird in eine Welt eintauchen, die von einem Mythos umwoben ist. Viele der Dinge, die neu und aufregend waren, haben ihren Zauber verloren und gehören heute zu den Problemen, mit denen man sich täglich konfrontiert sieht. Anderes ist tief in einer Zeit verwurzelt, die einige lieber vergessen machen würden, weil sie nur mit Scham und Selbstkritik einigermaßen zu verstehen ist. Schließlich wird auch Wehmut geweckt. Wehmut darüber, dass der Lebenshunger, der die Menschen einst vorwärts peitschte und ihnen für eine kurze Phase das Gefühl verlieh, alles erreichen zu können, wenn sie es denn nur wollten, längst vergangen ist und einer bequemen Dumpfheit Platz gemacht hat. Cailloux versteht es meisterlich, hier den Finger auf den wunden Punkt zu legen, ohne in einer Weise moralisierend zu werden. Er erzählt und weckt damit Gefühle. Genau das, und nichts anderes, ist der Beweis, eine gute Geschichte in Händen zu halten. Und Cailloux´ Geschichte ist gut.
Dass "Gutgeschriebene Verluste" dennoch das Zeug zu einem echten Meisterwerk fehlt, liegt wohl vor allem an der Opulenz der Erzählung. Das Aufsplittern auf mehrere Zeitebenen gelingt nicht in allen Bereichen – und so bleibt die Lektüre eine zwar schmackhafte aber nicht nur leicht verdauliche Kost. Auf jeden Fall aber ist sie das, was sich jeder wünscht, der den wahren Zeitgeist der 68er spüren möchte.
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