Bruder und Schwester
- London: Bloomsbury, 2004, Titel: 'Brothers and sisters', Seiten: 311, Originalsprache
- Freiburg im Breisgau: Audiobuch, 2005, Seiten: 6, Übersetzt: Franziska Pigulla
- Berlin: Berliner Taschenbuchverlag, 2006, Seiten: 389
- London; Berlin; New York; Sydney: Bloomsbury, 2012, Seiten: 389
Wer bin ich?
Nathalie und David sind adoptiert. Ihre Adoptiveltern haben daraus nie ein Geheimnis gemacht. Die Geschwister wissen auch, dass sie über keinerlei Blutsbande miteinander verbunden sind. Dennoch scheint die Welt für sie in Ordnung. Beide haben längst eine eigene Familie, als die Fassade unvermittelt zu bröckeln beginnt. Während sich Nathalie offensiv dem Gespenst ihrer Vergangenheit stellt, versucht David die Aufklärung zunächst abzuwenden. Doch Nathalie zwingt ihren Bruder dazu, sich gemeinsam mit ihr auf die Suche nach den jeweiligen Müttern zu machen. Eine Agentur hilft ihnen dabei, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften. Nach und nach kommen all jene Gefühle an die Oberfläche, die alle Beteiligten über viele Jahre sorgsam verborgen haben. Nicht nur Nathalie und David müssen sich der Frage stellen: Wer bin ich?
Bei dieser Thematik kommt leicht der Verdacht auf, hier werde eine dramatische Story von geheimnisvoller Herkunft und gefühlvoller Wiedervereinigung serviert. Doch weit gefehlt. Joanna Trollope schreibt über "normale" Menschen mit "normalen" Gefühlen. Sie erzählt die Geschichte zweier Menschen, die sich der Frage stellen, weshalb ihre Mütter sie einst weggegeben haben. Bei Nathalie und David sind dabei unterschiedliche Gefühle im Spiel. Während Nathalie sich mit einer gewissen Neugier – und wohl auch einer Portion Verständnis – auf die Suche macht, herrscht bei David das Gefühl, verlassen worden zu sein vor. Er nimmt es seiner Mutter übel, dass sie ihn nicht behalten hat, auch wenn er versucht, diesem Gefühl mit Verstand beizukommen. Diese Zerrissenheit bringt die Autorin sehr gut zum Vorschein. Sie beschränkt sich aber nicht darauf, die seelischen Wunden der beiden Adoptivkinder darzustellen, sondern geht Schritt für Schritt auf die Folgen ein, die der unvermittelte Wunsch nach Wahrheit bei den Angehörigen auslöst. Da sind die Adoptiveltern Lynne und Ralph: Vor allem Lynne fürchtet sich vor dem Moment, in dem sie ihren Status als Mutter abgeben und hinter den beiden leiblichen Müttern zurück stehen muss. Da sind aber auch Steve, Nathalies Partner, der mit der Veränderung seiner Frau nur schwer umgehen kann und Marnie, Davids Frau, die Angst davor hat, David an seine Mutter zu verlieren. Und letztlich kochen auch bei den beiden leiblichen Müttern ganz unterschiedliche Emotionen hoch.
Joanna Trollope führt ihre Leser gezielt durch dieses sich stets verändernde Beziehungsgeflecht. Sie beleuchtet die jeweilige Situation und lässt alle Beteiligten "zu Wort" kommen. Eingebettet in eine eher unspektakuläre, dadurch aber perfekt passende Geschichte, schildert die Autorin das Aufbrechen von Gefühlen und den Kampf aller Beteiligten, sich durch die veränderte Situation selbst neu definieren zu müssen. Da Trollope darauf verzichtet, eine klare Hauptfigur auszuarbeiten, sondern immer wieder in eine neue Rolle schlüpft, um die Ereignisse aus einer ganz anderen Sicht zu beleuchten, schafft sie es, gleichzeitig sehr nahe am Geschehen zu sein und dennoch Distanz zu wahren. Dadurch lässt sie den Lesern die Möglichkeit, sich in einem individuellen Tempo mit den Ereignissen zu befassen und auch, sich die Frage zu stellen, wie man denn selber mit einer solchen Situation umgehen würde. Man wünschte sich mit der Zeit allerdings, die Autorin würde den einzelnen Charakteren noch etwas mehr Aufmerksamkeit schenken und mehr Nähe zu den einzelnen Protagonisten zulassen.
"Bruder und Schwester" ist ein Roman, dessen Tiefe sich erst nach und nach offenbart. Das ist nicht zuletzt auch das Ergebnis eines leichtfüßigen Umgangs mit der Sprache. Die Autorin erzählt in schlichten, einfachen Worten und schlägt dabei einen leichten Plauderton an. Das mag zunächst irritieren oder einen falschen Eindruck von Oberflächlichkeit wecken. Denn es lohnt sich durchaus, sich sowohl mit den einzelnen Charakteren auseinander zu setzen, als auch mit der Frage, welche Umstände einen Menschen tatsächlich ausmachen. Sind es die Gene, die der Mensch bei seiner Geburt mit auf den Weg bekommt oder sind es die Umstände, unter denen eine Person heranwachsen und zur Persönlichkeit reifen kann? Wie auch immer die Antwort für jeden einzelnen ausfallen wird, die Frage "Wer bin ich?" dürfte nach der Lektüre noch lange in den Köpfen nachhallen.
Deine Meinung zu »Bruder und Schwester«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!