Flucht vor dem Unabänderlichen
Warum sucht sich eine Frau aus einer Großstadt wie Amsterdam in den besten Jahren ein Versteck in einem alten walisischen Farmhaus, weit ab vom nächsten Nachbarn, lediglich umgeben von Meer, Natur und Stille? Diese Frage kommt über kurz oder lang auf, wenn man in den Tagesablauf von Agnes eintaucht. Der Autor schildert Alltäglichkeiten in ihrem neuen Haus und beschreibt diese sensibel und in wunderbaren Bildern. Agnes streift durch die Natur, erkundet die überwucherten Wanderpfade, die über das Grundstück führen, ordnet und bepflanzt das verwilderte Anwesen, richtet das Haus ein und führt Selbstgespräche mit der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson, über die sie schon in Amsterdam eine Abhandlung schreiben wollte und deren Bild auf dem Kaminsims steht.
"Sehr langsam wurde es dunkel, es war, als würde das Licht durchs Fenster hinausgesaugt wie eine sehr feine Substanz, ihr wurde ein wenig schwindelig davon. Sie schob drei Holzscheite in den Ofen. Alles hatte sie zurückgelassen, nur die Gedichte mitgenommen. Damit musste sie auskommen."
Trotzdem auf den ersten Seiten wenig Überraschendes passiert, bleibt Langeweile aus, denn etwas schwelt zwischen den Zeilen, Fragen kommen auf. Warum tut diese Frau das? Warum sucht sie die Einsamkeit? Was bedrückt sie?
Agnes, die in Amsterdam als Literaturwissenschaftlerin arbeitete, warf eines Tages ihr altes Leben über Bord, verließ ihren Mann und hinterließ ihren Eltern lediglich eine kurze Nachricht, bevor sie ihr Hab und Gut auf einen Hänger lud und auf gut Glück nach England übersetzte. Man ahnt, dass der Auslöser dieser Flucht etwas gewesen sein musste, was sie zutiefst erschütterte. War es die Affäre mit einem ihrer Studenten, die sie forttrieb?
Der erste Teil des Buches, der mit "November" betitelt ist, wird sehr dominant von Agnes eingenommen. Sie richtet sich in dem Cottage ein, während sie gegen etwas in ihrem Körper ankämpft, was ihr langsam die Kraft raubt und Schmerzen verursacht und weshalb sie das Rauchen nicht ablegen kann. Sie lebt ihre Nacktheit aus, verschmilzt mit der Natur, als müsse sie sich selbst endlich wieder richtig spüren.
Aber das selbsterwählte Asyl und diese scheinbar idyllische Abgeschiedenheit sind nicht ausschließlich friedlich. Als Sinnbild für ein herannahendes Unheil scheinen die weißen Gänse zu stehen, die vor dem Cottage grasen.
"Von den zehn dicken weißen Gänsen auf dem Stück Land neben der Zufahrt waren nach knapp einem Monat noch sieben übrig. Die anderen drei verschwanden bis auf wenige Reste: Verstreute Federn und ein einziges orangefarbenes Bein. Die verbliebenen Tiere grasten ungerührt weiter."
Die Zahl der Gänse, die Agnes ebenfalls mit dem Haus gemietet hat, nimmt von Tag zu Tag ab. Agnes sieht in dem Verschwinden des schneeweißen Federviehs, die sich ein Fuchs oder Greifvogel holt, eine persönliche Bedrohung, der sie Einhalt gebieten muss. Nicht weniger beunruhigend empfindet sie den plumpen und aufdringlichen Nachbarn Rhys Johnes, der anfangs nur Zettel an ihrem Haus hinterlässt, bis er eines Tages einfach in ihrer Küche sitzt und versucht, ohne großes Vorgeplänkel bei ihr zu landen. Aber sie gibt ihm mehr als deutlich zu verstehen, dass er verschwinden soll.
Die Einsamkeit, die Agnes in Wales erhoffte, kann sie nicht finden. Weder in ihrem Inneren noch in ihrem äußeren Umfeld. Gerbrand Bakker ist großartig in seinen Andeutungen, vermag es vortrefflich, ganz allmählich eine leise Geschichte zu einem starken Roman zu verdichten. Nach seinen hochgelobten Werken wie "Oben ist es still" oder "Juni" durfte man dies nicht anders von ihm erwarten. Seine Sprache ist wie ein Balsam und man lässt sich leicht von ihr forttragen.
Als eines Tages Bradwen, ein junger Backpacker, auf einem Wanderweg an Agnes´ Cottage vorbeizieht und sich kurzerhand bei ihr einnistet, scheint ihre Flucht in die Einsamkeit endgültig gescheitert. Dieser Junge zieht sie an - dennoch stößt sie ihn immer wieder fort. Sie erzählt ihm nicht, warum sie allein an diesem abgelegenen Ort lebt. Aber auch Bradwen hat Geheimnisse und so umkreisen sie sich, spüren die Heimlichkeiten des anderen, wodurch sich Nähe und Distanz abwechseln. Agnes´ Schmerzen werden stärker, eine ungenannte Krankheit hält sie in Schach, weshalb sie sich vom Landarzt schwere Schmerzmittel verschreiben lässt. Sie erlebt ihr eigenes Verwelken, meint einen Altweibergeruch von sich aufsteigen zu spüren. Oder ist es doch der Geruch der verstorbenen Witwe Evans, die vor ihr das Cottage bewohnte?
Im zweiten Teil "Dezember" lernt man nun auch Agnes´ Mann kennen, der nach ihr zu suchen beginnt, nachdem er aus Verzweiflung über ihre Affäre mit einem Studenten und ihr plötzliches Verschwinden in ihrem Universitätszimmer einen Brand legte. Er engagiert einen Privatdetektiv und macht sich, nach einem Besuch bei Agnes´ Eltern, auf den Weg nach Wales, um seine Frau zurückzuholen.
Agnes gibt Bradwen schließlich eine Frist bis Weihnachten, um endgültig aus dem Cottage und aus ihrem Leben zu verschwinden. Aber dies ist nicht die einzige Frist, die abläuft.
Nicht nur der Umstand, dass der junge Bradwen Agnes nicht verlassen will, spitzt ihre Situation an ihrem Zufluchtsort zu, sondern auch, dass ihr Vermieter, von Rhys Jones angestachelt, ihr kurzfristig den Mietvertrag für das Cottage kündigen will. Dass auch ihr Mann bald auftauchen wird, kündigt sich eines Tages anhand einer Postkarte an. Agnes fühlt sich in die Enge getrieben und sieht nur noch einen Ausweg…
Mit sensiblem Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche einer schwerkranken Frau erzählt der niederländische Autor Gerbrand Bakker ohne Effekthascherei eine Geschichte, die einen nicht so schnell loslässt. Welche der Personen den Umweg geht, der diesem Roman seinen Titel verlieh, darf sich der Leser selbst ausmalen. Nur sollte niemand, der stille und dennoch eindringlich erzählte Geschichten liebt, an diesem wunderbaren Buch vorbeigehen.
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