Männer sind wie diese Pastete, nur hat Gott die Füllung vergessen.
Wer sich gerade überlegt, sich scheiden zu lassen, der ist gut beraten, zu David Vanns neuem Roman zu greifen. In ihm wird in einem leicht lakonischen Unterton von einem Paar erzählt, dass den Zeitpunkt der Trennung verpasst hat. Sei es, weil es gegenseitig an die ewige Liebe geglaubt hat, sei es, weil jeder für sich ohne den anderen alleine gewesen wäre. David Vann steht mitten in der Erzähltradition eines Philip Roth, eines Charles Simmons oder auch Jonathan Franzens. Er ist wie Raymond Carver imstande, mit einem Dialogfetzen ein ganzes Leben aufzureißen.
Ehepaare geben nur allzu gerne an, die andere Hälfte genau zu kennen, zu wissen, wie der andere tickt. Was mitunter heißt, ich habe gelernt, mit seinen/ihren Fehlern zu leben, habe mich arrangiert. Kein Wunder, dass Irene ihrem Mann Gary auf die Insel folgt, wo er eine Holzhütte errichten will, um der Natur und sich näher zu sein. Die beiden sind auf der Suche nach dem wahren Leben in Alaska gestrandet. Sie haben eine Familie gegründet, Irene als Lehrerin gearbeitet und Gary seine Träume ausgelebt, indem er neben vielem anderen, Schiffe baute, die keiner kaufen wollte.
Es gibt Romantitel, über die stolpert man sogleich. Sie schaffen es, dass wir ein Buch aufschlagen und die erste Seite lesen wollen. Dann gibt es genügend Titel, die alle gleich lauten und lauthals verkünden, um welches Genre es sich handelt. Wer "Die Unermesslichkeit" auf dem, Einband liest, fragt sich eher, was hat sich der Verlag dabei gedacht, einen Roman, der im Original "Caribou Island" heißt, "Die Unermesslichkeit" zu nennen? Was wird hier vermessen und warum? Ist es wirklich die Absicht des Autors das Leben seiner Helden nach Maßeinheiten einzurichten?
Folgen wir der Geschichte jedoch in die scheinbar seichten Untiefen, die der familiäre Alltag so mit sich bringt, bekommen wir ein Gefühl dafür, dass sich hier ein Autor tatsächlich vorgenommen hat, die Entfernung zwischen Sehnsucht, Traum und Wirklichkeit zu vermessen. Vann vermerkt auf der Skala der Entfremdung ein letztes Aufbegehren. Bei Irene, die unter merkwürdigen Kopfschmerzen leidet, die kein Arzt zu diagnostizieren versteht, und die ihr Mann als Heischen um Aufmerksamkeit abtut. In Garys manischer Fixierung auf ein in Holz manifestiertes Freiheitsgefühl, indem er Stämme durchs Wasser zieht und bei dem Bau fast vergisst, Platz für eine Tür oder ein Fenster zu lassen.
Wir sind in Alaska. Und da gibt es nicht nur Irene und Gary. Die nächste Generation Ehe steht bereits am Start. Ihre Tochter Rhonda ist mit dem Zahnarzt Jim zusammen, der das Leben mit ihr zwar genießt, aber bei der ersten Versuchung durch die wunderschöne Monique in ein anderes Bett steigt. Männer in der Krise bauen sich Hütten oder brauchen Sex. Frauen in der Krise bekommen Migräne oder verschließen die Augen vor der Wirklichkeit, um später Migräne zu bekommen. Das dreiundzwanzigjährige Lustobjekt Monique wird Jim später erpressen, Garys Holzhütte nie fertig gestellt werden.
"Die Unermesslichkeit" ist ein Roman über das, was man mal gehabt hat und plötzlich nicht mehr hat. Über den Trug, dass jeder für sich fest davon überzeugt ist, das Leben zu kennen. Die Liebe ist hier getrimmt auf das Durchhalten, um nicht alleine zu sein. Jim wird seiner Rhonda einen Heiratsantrag machen, nachdem er hat spüren müssen, wie gefährlich es sein kann, sich außerhalb der abgesicherten Bahnen zu bewegen. Und so wird sich Rhonda wie ihre Mutter einen Mann nehmen, der mehr an sich interessiert ist als an ihr.
Man gibt vor, sich zu kennen. Man versteht sich. Man will miteinander alt werden. Selbst die Loser am Rand träumen davon. Jemanden wie Clarc, der schnöde von Monique auf dem Campingplatz zurückgelassen wird, weil sie bei einem Zahnarzt ein bisschen Geld gemacht hat. Clarc wird in einer Fischfabrik landen, wo er schon am ersten Tag alles hinwirft und seine Mutter anruft, damit sie ihm Geld schickt und er nach Hause kommen kann. Auch hier lebt die Geschichte von Vanns Können, dem Schicksal einen ironischen Unterzug einzuflechten. Er tritt nicht die große Depression los. Er verleiht dem Scheitern ein Schmunzeln über sich selbst, weil ja alles so schrecklich ist.
So erzählt der Autor letztlich, trotz des deutschen Romantitels nur eines: Dass das Leben ist, wie es ist. Nämlich nicht messbar. Irgendwie wollen sich die Maßeinheiten dieser Welt nicht fügen, wenn es darum geht, die Liebe am Köcheln zu halten. Während die einen in Alaska bleiben, brechen andere nach New York, Seattle oder San Diego auf. In Alaska setzen sie sich währenddessen weiter dem Wind aus, fangen Lachse und erzählen von Bären.
Und überstehen jedes Unwetter. Irgendwie.
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