Viel erleben
"Ab jetzt ist Ruhe", ein Satz, den Marion Brasch nicht nur von ihrem Vater zu hören bekommen hat, ein Satz, der ihr in ihrem Leben immer wieder begegnen soll. Braschs Roman ist die Geschichte ihres eigenen Lebens, das wohl weniger Höhen als Tiefen erlebt hat und in dem es zu einer Vielzahl an Schicksalsschlägen gekommen ist. Doch der Reihe nach:
Marion Brasch wuchs als jüngste Schwester dreier Brüder in der ehemaligen DDR auf. Ihre Eltern, jüdischen Ursprungs, hatten den Krieg überlebt und sich schließlich in der DDR niedergelassen. Bereits Marions Kindheit war turbulent. Ihr ältester Bruder war bereits ausgezogen, als sie und ihr jüngster Bruder noch sehr klein waren. Der Vater war treuer DDR-Bürger und in der Partei aktiv, was der Familie zu so manchem Vorteil verhalf und gewisse Privilegien mit sich brachte. Da die älteren Brüder bereits früh gegen das System zu rebellieren begannen, war das Familienklima alles andere als harmonisch. Die Söhne distanzierten sich vom Vater, und als schließlich auch noch die Mutter an Krebs starb, machte das die Sache für Marion nicht leichter. Kontakt zu den Brüdern war durch deren zerrüttetes Verhältnis zum Vater kaum möglich. Der Vater selbst war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als die Bedürfnisse des jungen Mädchens wahrzunehmen.
Marion ist früh gezwungen, sich ihren eigenen Weg zu suchen, was gar nicht so leicht ist, wenn die eigenen, erfolgreichen Brüder die Messlatte derart hoch legen. Auch das Ambivalente Verhältnis zum Vater, einerseits ist sie versucht, es ihm recht zu machen, beispielsweise trat sie seinetwegen zum entsetzen der Geschwister heimlich in die Partei ein, andererseits versucht sie alles, um sich von ihm zu lösen und seiner Kontrolle zu entfliehen. Sie sucht sich - ohne ihn zu informieren - eine eigene Wohnung, um nicht länger von ihm abhängig zu sein.
Erst als die ganze Familie an verschiedenen Orten lebt, beginnen sie sich langsam wieder näher zu kommen. Doch zu diesem Zeitpunkt ist der mittlere Bruder bereits verstorben und weitere Familienmitglieder folgen ihm innerhalb kürzester Zeit. Der Vater teilt das Schicksal der Mutter, er stirbt an Krebs, die Brüder verlieren sich in Süchten. Ihre beruflichen Erfolge halfen nicht, die innere Zerrissenheit zu überwinden.
Der Roman schildert feinfühlig und offen das bisherige Leben der Marion Brasch. Sie beschreibt, wie sie die vielen Ereignisse in ihrem Leben wahrgenommen hat, sei es der Tod der Eltern und Brüder und die Spaltung ihrer Familie, das Wissen um ihre jüdischen Wurzeln, die zwar keine direkte Rolle in ihrem Leben eingenommen haben, derer sie sich aber dennoch bewusst ist. Gleichzeitig beschreibt sie das Leben in der DDR, die Bedeutung der Partei und die unterschiedlichen Einstellungen der Einwohner, die Unsicherheiten und Gefahren, die mit Systemkritik verbunden waren und die stete Angst auch innerhalb der Familie, für die eigene oder familieninterne Haltung Konsequenzen befürchten zu müssen.
Gerade Leser, die bisher nur wenig über das Leben vor der Wende wussten, erfahren viel über die damalige Problematik, was aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbar ist.
Bemerkenswert ist vor allem Braschs Offenheit. Sie erzählt zwar aus ihrer persönlichen und daher unausweichlich auch subjektiven Sicht, dennoch bekommt der Leser nie das Gefühl, dass sie sich selbst in den Mittelpunkt stellt, ihre eigene Person positiv hervorhebt oder sich selbst anders darstellt. Sie berichtet auch von ihren eigenen Problemen, ihrer Suche nach den eigenen Zielen. Jugendsünden und auch ernste Probleme wie Bulimie werden nicht ausgespart.
Gerade das macht ihren Roman so sympathisch. Der Leser erhält nicht das Gefühl, jemand möchte sich mit seiner Autobiografie zum Helden machen. Nein. Das will Marion Brasch sicher nicht.
Verglichen mit anderen Autobiografien, wie etwa der von Alice Schwarzer, kommt Brasch bescheiden daher. Dennoch ist sie in der Lage, ihre Leser zu fesseln und zu begeistern.
"Ab jetzt ist Ruhe", Ruhe vor der Vergangenheit? Im Gegensatz zu ihren Brüdern ist es der Autorin gelungen, sich aus ihrer Vergangenheit zu befreien. Statt an ihrem Schicksal zu zerbrechen lebt sie weiter, inzwischen mit Tochter, als freie Rundfunkjournalistin.
Ein empfehlenswerter Roman, der berührt und nachdenklich stimmt.
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