In Stein gemeißelt
Eines dürfen wir Mauro Corona sicher nicht vorwerfen, dass seine Geschichte blass vor sich hindümpelt. Liegt der Prolog erst einmal hinter einem, zieht der selbst in einem Bergdorf im Friaul aufgewachsene Autor einen sogleich in eine archaische Welt hinein, die ihn auf eine Stufe mit John Kittel und seinem berühmten Roman "Via Mala" hebt. Allerdings verschreibt sich Corona nicht allein dem Schicksal seiner Familie mittels des Zeugenberichts eines gewissen Servino Corona. Er lässt den Blick über die Täler, die Hänge bis hin nach Mailand schweifen. Wo sich die mittellosen Töchter der Bergbauern als Dienstmägde verdingen und sich weiterhin selbst überlassen sind.
Natürlich kommen einem viele der Geschichten von erschlagenen Vätern, denen die Frauen geneidet werden, von Frauen, die sextoll den Männern den Verstand verdrehen, bekannt vor. Es hagelt nur so Flüche, die auf Bergwiesen Bauern zu Opfern von Nattern, dem Blitz oder der Spitze des Mähdrechels des Nachbarn verdammen. Doch entgeht Corona der Versuchung diese Melange aus Aberglauben und Gottesfurcht dem Mainstream entsprechend zu einer Bestseller-Suppe aufzukochen. Er vertraut seinen Wurzeln, seine Kenntnissen über das harte Leben zu jener Zeit. Er sammelt die Geschichten auf und steckt sie zu einem grausamen Strauß der vortouristischen Alpenwelt zusammen.
Es ergeht uns wie dem schriftstellerischen Ich im Prolog. Auch wir werden von dem ersten Satz des in "zylinderförmigen, in Zeitungspapier eingewickelten Manuskripts" fasziniert:
"20. Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee."
Hier macht sich jemand auf, um sich zu stellen, zu berichten, womöglich zu beichten. Im ersten Drittel des Romans erscheint Severino Corona, auch Zino genannt, wie ein Opfer. Als Waise um Vater und Mutter gebracht, schlägt er sich mit seinem Bruder Bastiano durchs Leben. Sie flüchten aus dem Tal, das ihnen nur Kummer bereitet und kehren doch wieder zurück. Weil die Heimat nun mal die Heimat ist. Der Autor Corona versteht es geschickt, das Hineinwachsen in die eigene Schuld zu bebildern. Eine Chronik dessen, was Menschen Menschen antun, wenn sie sich das nehmen, von dem sie glauben, dass es ihnen zusteht.
Als Zino sich mit der Frau seines Freundes Raggio einlässt, mit dem er zusammen eine Käserei aufgebaut hat, ist er längst ein Teil des abgestumpften, durch am eigenen Körper und Seele erlittenen Unrechts,
das das Leben Anfang des 20. Jahrhundert "Im Tal des Vajont" mit sich bringt. Stände einer auf der Kanzel und predige, würde er ausrufen, der Teufel steckt in allen und die Versuchung lauert überall. Coronas Menschen sind Geschlagene, die wüten, klagen, sich selbst hinabreißen.
Natürlich ist Zinos Bergwelt eine männliche. Das Weib stellt die Versuchung dar und wäre es nicht aus der Rippe eines Mannes entsprungen, es gebe weniger Leid in dieser muskelbepackten Welt. Diese simple Weltsicht entspringt der Wahnwelt eines Mannes, der sich wie zwangsläufig seinem Schicksal ausgeliefert sieht. Er könnte widerstehen und tut es nicht. Er könnte weggehen und tut es nicht. Er könnte einen einmal begangenen Fehler nicht wiederholen und tut es nicht. Familie bildet bei Mauro Corona einen weiten Verbund, der gerade dazu ausreicht, dass man sich gegenseitig begräbt oder zum Sterben nach Hause kommt.
So erscheint Zino wie ein Mann, dem trotz all seiner Kraft schon längst das Rückgrat gebrochen worden ist. Er weiß um die Gerechtigkeit. Er entflieht der Versuchung, indem er nur mit sich sein will und herrenlos herum streunt. Er glaubt zwar, sich auflehnen zu können, indem er sich entzieht, doch er hat längst genauso gelebt, wie alle jene Männer in seinem Tal, die ihn ins Leid gezogen haben. Der Wahnsinn, der Verrat, die Sehnsucht wohnt hier Tür an Tür mit der Armut, die einem nur eine Freiheit zugesteht, sich selbst und andere zu zerstören.
Die erschütternde Geschichte eines wortkargen Lebens, dessen Sinne dem Wind, dem Wetter, der Lust und dem Herrgott ausgeliefert sind.
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