Libertinage
Nicht nur die Gesellschaft ändert sich. Auch die Literatur. Wer Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" zu schätzen weiß, wird die Irrungen und Wirrungen der Gefühle in "Die schwangere Witwe" nicht der ersten Liebe vielmehr der sexuellen Befreiung zuordnen wollen. Den Abgründen, Verwerfungen ist Wedekind in seinem Stück "Lulu" nachgegangen, in dem er ein Panoptikum an Herren an einer freiheitsliebenden Frau vorbei defilieren ließ, um sie am Ende ausgerechnet Jack the Ripper auszuliefern.
Martin Amis ist da trotz aller Freizügigkeit harmloser. Er versammelt seine Helden 1970 in Kampanien wie Gestrandete der fleischlichen Lust um einen Pool. Die körperlichen Vorzüge müssen nicht länger versteckt werden. Frauen dürfen öffentlich begehren, ihre Vorzüge ausstellen. Es lebe der Sex ohne Eheversprechen. Mit Wedekind verbindet Amis der Gedanke, dass es sich wunderbar über Sex reden lässt, ohne ihn en detail beschreiben zu müssen.
Schon Romy Schneider und Alain Delon wussten um die gefährliche Kombination von einem Swimmingpool, Hitze und nacktem Fleisch. Ein schweißnasser Körper, zu viel nackte Haut auf einer Liege, die Bewegungen einer Frau im Wasser, ein Mann in einer zu engen Badehose können einem den Verstand rauben. Worte allerdings noch mehr. Was dazu führt, dass Keith und seine Freunde nur ein Thema kennen: wer mit wem, und man selber am besten sofort mit der Schönsten überhaupt.
Obwohl die sexuelle Revolution die öffentlichen Schranken niedergerissen hat, nackte Haut nicht verpönt ist, bleiben die Schranken in den Köpfen, den Blicken bestehen. Scham und Freizügigkeit tummeln sich am Wasser ebenso wie das Gefühl, dass, wer sich selber nicht ausprobiert, automatisch ein Loser ist. Martin Amis kennt seine literarischen Vorläufer. Keith ist ein Leser. Er flüchtet vor allzu bedrängenden Fragen in die Welt der Bücher. Natürlich tauchen D.H. Lawrence, Jane Austen, Henry Fielding, Ovid auf. Die klassische Literatur der Verklemmung, der heimlichen Freiheiten, über die Last, das Leben als Spiel zu betrachten, in dem es vor allem darauf ankommt, Lust als solche auch zu empfinden.
Keiths Sommer spaltet sich in seiner durchaus vorhandenen Liebe zu Lily, dem Busenwunder Sheherazade, dem göttlichen Hintern Glorias, dem Spott über den kleinwüchsigen Adriano auf. Dessen untere Region um so reichhaltiger ausgestattet zu sein scheint. Sie können sich alles nehmen, sich alles erlauben, sie brauchen sich nur einzulassen. Aber sie reden lieber. Sie stellen sich zur Schau. Sie befinden sich im ständigen Wettbewerb miteinander. Wer wird sich wohl wem hingeben?
Amis weiß, dass wichtiger als etwas zu besitzen ist, über etwas zu reden. Und so bewegt er sich als moderner Oscar Wilde durch die Welt der Heranwachsenden und stattet sie mit dem ganzen Wissen eines 62jährigen Autoren aus, der mit sprachlichen Bildern fein ziseliert vom Vorabend der Niederlage erzählt. Im Sommer in Kampanien ist es immer noch so, dass die Hässlichen an den Schönen leiden. Dass die von der Natur nicht Begünstigten, schlau sein müssen, verschlagen.
Was die wunderschöne Shehezerade nicht benötigt. Sie ist die achtlose Königin, die Strippenzieherin der gewährten Zuneigung. Während die anderen sich wie "Glühwürmchen mit Leuchtorganen" vorkommen. Sex ist etwas Wunderbares, etwas Befreiendes, etwas voller Gier. Wäre da nicht die Eifersucht, die Intrige, das Lästern, die Lüge, das Zicken, der Neid.
In den gelungenen Passagen erzählt Martin Amis mit leichter Hand davon. Leider fühlt sich manches Kapitel so an, als lägen wir Leser selber mit am Pool. Zu faul zu reden, zu denken, zu fühlen, der Langeweile der Wiederholung ausgesetzt. Es baut sich trotz aller vom Trieb angefeuerten Hitze wenig Spannung auf. Wer, wen, wie bekommt oder überhaupt, ist nach einiger Zeit so egal, wie ob es morgen wieder 28 Grad im Schatten sind.
Vielleicht wollte Martin Amis gerade davon erzählen. Schaut euch die Literatur an von Austen über Lawrence bis hin zu mir, der Kern bleibt unberührt. Die Liebe. Ob bekleidet oder weniger oder nicht. Es kommt nicht auf die Freiheit an sondern auf den, der liebt. Was wiederum den zornigen, alten Mann der britischen Literatur, milde gestimmt hat. Fast zahnlos versucht er Jane Austens Welt an einem Pool in den 70ern neu zu komponieren. Um einmal mehr vom Schrecken zu erzählen, den das spätere Leben mit sich bringt, sobald wir den Pool verlassen haben, um die Heimreise anzutreten.
Ein seltsam virtuoser Hauch von Altersmelancholie durchweht den Roman, in dem der Mensch seine Freiheit im Leben verspielt.
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