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  • Oslo: Oktober, 2009, Titel: 'Min kamp 2', Seiten: 562, Originalsprache
  • München: Luchterhand, 2012, Seiten: 762, Übersetzt: Paul Berf
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Britta Höhne
911001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2012

Weichzeichner des Alltags

Er nennt sich der "König des Ungefähren", weil er Halbwissen hat, dabei klug dreinschaut, aber bei genauerer Nachfrage, etwa zum Begriff des Existenzialismus, nicht weiß, was er dazu sagen soll.  Dabei ist "Lieben", nach "Sterben" der zweite von insgesamt sechs autobiographisch angelegten literarischen Projekten des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgard, alles andere als eine halbe, unvollendete, detailarme Geschichte. Genau das Gegenteil trifft zu. Mehr als 750 Seiten bedurfte es, damit Knausgard einen Punkt unter seine Geschichte setzte und diese vorerst als beendet erklärte.

"Lieben" ist fürwahr eine kleine Sensation: Schreibt der 1968 geborene Autor doch über nichts anderes als den Alltag. Und das macht er so geschickt, dass selbst zum Ende des Buches weder die Qualität leidet, noch die Spannung schwindet. Interessant, zumal es aus Sicht der meisten Menschen wohl nichts Langweiligeres und Graueres gibt, als das alltäglich Wiederkehrende.

Gut gemacht ist zudem, dass Knausgard die gesamte Erzählung hindurch in den Zeiten hin und her springt. Er beginnt im hier und jetzt, wandert fünf Schritte zurück, einen wieder vor, ohne das der Leser die Übersicht verliert. Eine Kunst in Anbetracht der Seitenzahl. Auch hält der Autor, dessen  Erstlingswerk "Sterben" über Monate hinweg die Bestenlisten anführte, es nicht für notwendig, einzelne Kapitel zu formen. "Lieben" ist durchgehend, fließend zu lesen – ähnlich des Alltages, der auch selten unterbrochen wird. 

Knausgards Protagonist heißt wie er selbst: Karl Ove Knausgard. Wirkt es anfänglich überreizt, dass er auch ständig mit beiden Vornamen genannt wird, fügt sich auch diese Tatsache perfekt ins Bild. Knausgard ist, wie im richtigen Leben, Schriftsteller. Er lebt im norwegischen Bergen mit seiner damaligen Frau Tonje. Acht Jahre verbrachte er an der Seite dieser Frau, bis ihm sein Wohnort zu eng wurde – und die Welt seines Denkens dazu. Er verabschiedet sich, beschließt zu gehen. Von heute auf morgen. Nach Stockholm, Schweden.

Der Neustart in der oft als kalt und anonym beschriebenen schwedischen Hauptstadt Stockholm fällt Karl Ove schwer. Wäre da nicht sein guter und treuer Freund aus Jugendtagen, Geir, bei dem er die ersten Wochen in der Fremde ein Domizil findet.

Die Beziehung zu Tonje verläuft im sprichwörtlichen Sande. Sie trennen sich und Karl Ove verliebt sich in Linda. Einer Frau, von der ein jeder rasch denkt, wie hält ein Mann es mit dieser Person aus. Sie ist jähzornig, oft wütend, beleidigt, wendet sich ab. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist sie die Frau, die Karl Ove drei Kinder schenkt: Vanja, Heidi und John.

Das zweite und dritte Kind verwundern: Ist da Paar doch nach Vanjas Geburt überfordert. Karl Ove übernimmt die häuslichen Pflichten und den Säugling, während seine Frau Linda ihr Studium wieder auf nimmt. So ist es vereinbart – und so läuft es nicht immer gut. Knausgard spricht dabei aus, was wohl viele Eltern zuweilen denken, aber sich nie zu sagen trauen. Gefragt, wie es sei, sich um ein Kind zu kümmern, antwortet er entwaffnend ehrlich: "Schrecklich... Aber ich halte durch." Linda reagiert traurig auf Karl Oves Antwort und wenige Zeilen später einigt sich das Paar, Vanja früher als geplant in den Kindergarten zu geben, damit Karl Ove wieder arbeiten kann. Nicht nur sein Wunsch wieder zu arbeiten, drängt, auch das Abschieben des Gedankens, dass aus ihm ein verweiblichter Mann geworden ist.

Immer wieder tauchen Sentenzen auf, in denen Karl Ove seine Rolle als Hausmann und Vater als eine wiedernatürliche betrachtet. "Wenn ich mit Kinderwagen durch die Stadt ging und die Tage damit verbrachte, mich um mein Kind zu kümmern, fügte ich meinem Leben nichts hinzu, was es bereicherte, es wurde ihm im Gegenteil etwas genommen, ein Teil meiner selbst, der mit Männlichkeit zu tun hat." Erst mit der Geburt des dritten Kindes, mit fortschreitendem Alter und zunehmender Routine, beginnt er dieses Selbstbildnis fort zu wischen, auch, weil er seine Kinder über alle Maßen liebt. 

Es ist nicht nur das Beschreiben des Alltäglichen, was "Lieben" lesenswert macht. Es sind die Gedanken, die ausgetauscht werden, zwischen ganz unterschiedlichen Menschen. Knausgard zeichnet ein Bild seiner Generation, zeichnet ein Bild der Gesellschaft in der er lebt und eines, um seinen eigenen kleinen Kosmos. Die Themen, die er dabei zu Tage fördert, sind schier unerschöpflich. Auffällig oft geht es um Kunst und besonders um Literatur. Querbeet liest sich der Protagonist, nennt die großen Schriftsteller in einem Zuge mit weniger bekannten: Shakespeare, Lars Nnorén, Kristian Petri, Stig Larsson, Lars Jakobsen, Ezra Pounds, Gottfried Benn, Schiller, Kleist, Ibsen. Die Liste lässt sich fortschreiben.

Hätte Knausgard auf die vielen, vielen Details verzichtet, wäre das Buch vielleicht nur halb so dick. Aber der Leser hätte nicht gewusst, wie die hübsche Bäckereiverkäuferin gekleidet ist, die Karl Oves Lust schürt, wie das Mittagessen seiner zweiten Tochter zusammen gestellt ist, oder die insgesamt vierte Autofahrt aussieht, die er kurz nach bestandener Fahrprüfung  gemeinsam mit seiner ganzen Familie unternimmt. Wer es zudem schafft, sich durch die oft langen Sätze zu finden und den Faden bei schier endlosen Gesprächen, Diskussionen über den Sinn des Lebens etwa, den Tod, Erziehungen, Frauen, Männer, nicht verliert, wird am Ende begeistert sein.

Ein vergleichbares Buch gibt es nicht. Weder an Banalität noch an Inhaltsschwere. Schwer wird nur für Karl Ove Knausgard, seine vier weiteren - bereits angekündigten - Bücher, ähnlich mit Inhalt zu füllen, wie "Sterben" und "Lieben". Chapeau!

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