Der Russe ist einer, der Birken liebt

  • Hamburg: Hörbuch Hamburg, 2012, Seiten: 5, Übersetzt: Julia Nachtmann, Bemerkung: gekürzt
Der Russe ist einer, der Birken liebt
Der Russe ist einer, der Birken liebt
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Christine Ammann
891001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2012

Mascha rennt

Mascha ist eine Einzelkämpferin, die alles zu haben scheint, was man für ein erfolgreiches Leben in Deutschland braucht. Die Protagonistin aus Olga Grjasnowas Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" beherrscht fünf Sprachen, hat ein Doppelstudium mit Bravour absolviert und in Moskau, Brüssel, Wien und Warschau gelebt, studiert und gejobbt. Zur Zeit wohnt sie mit ihrem deutschen Freund Elias in einer günstigen Frankfurter Wohnung, hat ein Stipendium und das Ziel, Dolmetscherin bei der UN zu werden. Sie ist intelligent, attraktiv und forsch, aber ihr Leben bewegt sich in einer scheinbar unaufhaltsamen Abwärtsspirale.

Wie in einem Spiegelkabinett sieht Mascha, wo sie nur hinschaut, Fratzen und Zerrbilder, vor denen sie trotzig davonläuft. In raschen Szenenwechseln begegnet sie dem ´automatisierten Singsang’ der Obsthändler, ´Punkern, die auf die Gleise pissen’, ´Windmühle, der die Arroganz eines erfolgreichen Dolmetschers materialisierte’, dem ´Opa, der neben Elias selbstzufrieden schnarchte’ oder einem einzigen ´Ost-Biedermeier’ samt einer ganzen Batterie Kuckucksuhren.

Olga Grjasnowa lässt den Leser nicht lange darüber im Unklaren, vor welcher Endlosschleife im Kopf Mascha flieht: vor einem hellblauen Unterrock und dem Blut, die zu einer Frau gehören, die der siebenjährigen Mascha aus dem oberen Stockwerk eines Hauses in Baku vor die Füße stürzte. Mascha ist jüdische Russin aus Aserbaidschan und mit ihrer Familie vor den Pogromen in ihrer Heimat nach Deutschland geflohen. Seitdem hat sie Angst vor Nähe und allem, was nach Heimat aussieht, auch wenn sie sich gleichzeitig danach sehnt. Lieber füllt sie ihre Leere mit Vokabeln.

Die Abwärtsspirale gewinnt noch einmal an Schwung, als ihr Freund Elias aufgrund mangelhafter medizinischer Versorgung, so legt der Roman nahe, an einem harmlosen Beinbruch krepiert. Sie gibt sich die Schuld und will nur noch weg von allem, was sie an Elias erinnert.

Sie, die Jüdin, die kein Hebräisch, aber fließend Arabisch spricht, landet bei einer deutschen Stiftung in Tel Aviv, doch auch hier gerät sie zwischen alle Fronten, sieht sich unentwegt Anfeindungen und Zuschreibungen ausgesetzt.

Der Roman der 1984 in Baku geborenen Olga Grjasnowa, die manche Lebensdaten mit ihrer Romanheldin teilt, reiht sich ein in andere Werke deutschsprachiger Autorinnen, die als Migrantinnen Heimat und Heimatlosigkeit zu ihrem Thema machen, etwa "Alle Tage" von Terézia Mora oder "Tauben fliegen auf" von Melinda Nadj Abonji. Aber die Klassifizierung als Migrantenliteratur greift bei Weitem zu kurz.

Mascha, Mitte Zwanzig, ist eine Vertreterin der ´Generation Praktikum’, die überall in der globalisierten Welt zu Hause ist und gleichzeitig nirgends. In schnellen Schnitten und flotten Dialogen führt uns Olga Grjasnowa eine Mascha vor, die sich spielend in der Welt zurechtfindet, die für alles und jeden sofort ein Etikett zur Hand hat, die aber für sich selbst keine Zuschreibung findet.

Olga Grjasnowa versteht es, das eindringliche Porträt einer jungen Frau zu zeichnen, die trotzig und wütend gegen die seelischen Verletzungen anrennt, die ihr der Weltenlauf zugemutet hat. Dass Mascha dabei direkt neben der Tür mit dem Kopf durch die Wand will, verleiht Olga Grjasnowas Debüt "Der Russe ist einer, der Birken liebt" eine Tragik, die auch schon mal ins Komische kippt, etwa wenn ihre Freunde Cem und Sami griechische Klageweiber bestellen, die über YouTube um Elias trauern sollen. 

Mit "Der Russe ist einer, der Birken liebt" ist Olga Grjasnowa ein trockener, manchmal böser, manchmal witziger Stationenroman gelungen, den man am liebsten in einem Rutsch verschlingen möchte. Die Frage, wie es mit dieser Mascha weitergeht, lässt einem einfach keine Ruhe.

Der Russe ist einer, der Birken liebt

Olga Grjasnowa, Hörbuch Hamburg

Der Russe ist einer, der Birken liebt

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