Mein kleiner Krieg
Letzter Aufruf: TRETET DIE MENSCHEN BIS SIE EIN GEWISSEN BEKOMMEN
Louis Paul Boons "kleiner Krieg" ist der große Zweite Weltkrieg. Trotzdem ist der Titel treffend. Denn keine menschenverschlingenden Schlachten sind Thema des Buches, nicht die Vernichtung im großen Stil. Boons Thema ist der Alltag, der dem Krieg, der faschistischen Repression abgetrotzt wird, der hingenommen wird wie eine unvermeidliche Krankheit, begrüßt von Opportunisten und anderen Kriegsgewinnlern; der Kollaborateure erzeugt wie Widerstandskämpfer. Boon bringt Miniaturen auf´s Papier, ganze Leben, fixiert auf einen bestimmten Moment, auf bestimmte Taten. Er urteilt nicht, sondern nimmt wahr und beschreibt: Das Leben, das Leiden, den Tod. Bei ihm finden Kartoffeldiebe eine Heimstatt, Deserteure, Zweifelnde, huldvolle Lakaien der jeweiligen Machthaber und krebskranke Ex-Nonnen, die ihr Geschwür unterm gerafften Rock bereitwillig zur Schau stellen. Zu vorgerückter Stunde, betrunken, im Taumel.
Taumeln… durch Bombenhagel mit seinen unwirklichen Illuminationen, durch eine Bürokratie, die genauso effektiv ist in der alltäglichen Verwaltung wie der Organisation des Genozids. Es sind oft nur kleine Randbemerkungen, die den wahren, tiefsitzenden Schrecken transportieren. Menschen, die Opfer von Lügen werden, verschoben und dann vergessen. Boon entzündet kein Feuerwerk, er hält die Flamme klein, lässt seine Figuren agieren, innehalten, fortschreiten - ganz egal wie die Bedingungen um einen herum sind. Das Leben geht weiter und es schert sich nicht um Aufrechte und Verbrecher. Der eine kann fallen, der andere macht seinen Weg. Egal, wer gerade das Sagen hat. Und Deserteure? Können sie entkommen, werden sie hingerichtet, oder dichtet ihnen der verschreckte Bürger das Sisyphosschicksal zu? Egal, denn wie immer auch es ausgeht, das Ergebnis ist eine Lüge, von Machthabern verbreitet.
Ob Krieg Menschen verändert, zum schlechteren wie besseren, ob er sie wie zuvor weiter agieren lässt, nur verzweifelter, wahnsinniger oder vom Wunsch nach Überwindung beseelt: Unberührt lässt er nicht, auch abseits von Schützengräbern, Bombenhagel, Konzentrationslagern. Doch sein formales Ende provoziert Vergessen, Verdrängung; der Aufbau zerstörter Städte zeigt neue Optionen für die rosige Zukunft, egal für welche Seite man gekämpft hat. Eben noch die SS-Uniform getragen, jetzt Versicherungsvertreter, erfolgreich. Kurz zuvor Familie gewesen, Vater, Mutter, drei Kinder, jetzt Alleinerziehend mit Einzelkind. Louis Paul Boon bricht den großen Krieg herunter auf Einzelschicksale, zeigt aber genau dadurch die Verwüstungen, die Krieg in jedem Lebensbereich hinterlässt. Gleichzeitig schreibt er gegen das Vergessen, denn er weiß genau wie nivellierend die offizielle Kapitulation des Besiegten wirkt. Doch während Belgien und seine Bewohner sich auf den Nachkriegsalltag vorbereiten, wird der Krieg an anderen Fronten fortgeführt. Bis zum Atombombenabwurf. Und auch das ist nicht das Ende. Denn Stellvertreterkriege warten und werden jeden Tag der Zukunft prägen. Boon wehrt sich mit Worten dagegen, seine bittere Abrechnung mit dem "kleinen" Krieg lässt jederzeit die kommenden Auswirkungen all der scheinbar winzigen Aktivitäten Einzelner oder kleiner Gruppen durchschimmern. Vergeben, vergessen, einerlei; an der mörderischen Zukunft wird bereits gebastelt. Louis Paul Boon erläutert es bereits während der Einleitung:
"Das Buch, das man nur geschrieben hat, um dem dumpfen Schmerz zu entkommen und um nicht wahnsinnig werden zu müssen, wird der Spiegel, der Abgrund, die Hölle sein, kommenden Geschlechtern zur Betrachtung, - vielleicht unter der Bedingung, daß sie zehn Cent bezahlen wie im Museum, denn auch dann werden Profiteure herumlaufen – um – ach, um was? Um wieder damit anzufangen, vielleicht. Um wieder mordend und vergewaltigend und Lügen verbreitend über das Buch zu sagen, daß nie eine größere Lüge geschrieben wurde. Um einen mit dem Bann der heiligen Kirche zu belegen und auf die Liste der verbotenen Bücher zu setzen und auf einen neuen Scheiterhaufen zu werfen und wie die Indianer drumherum zu tanzen."
"Mein kleiner Krieg" ist kein Roman, keine Sammlung von Kurzgeschichten, sondern ein Kaleidoskop; eines der wenigen wahren Anti-Kriegs-Bücher, gerade weil es den Krieg nicht zu Wort kommen lässt, sondern die Menschen, die mit seiner vernichtenden Präsenz leben müssen. Wenn sie nicht in seinem Angesicht, und auch das ist ein menschliches, eine Fratze, draufgehen.
Ein Ende: "WAS HAT DAS ALLES FÜR EINEN SINN?"
Das andere findet sich in der Überschrift.
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