Der Chronist der Winde
- München: dtv, 2002, Seiten: 272, Übersetzt: Verena Reichel
- Stockholm: Ordfront, 1995, Seiten: 256
- München: Der Hörverlag, 2001, Seiten: 4, Übersetzt: Edgar M. Böhlke
- München: dtv, 2005, Seiten: 363, Bemerkung: Großdruck
- München: Der Hörverlag, 2007, Seiten: 5, Übersetzt: Edgar M. Böhlke
- München: dtv, 2011, Seiten: 267
Wenn dies die beste aller Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?
Dieses Zitat von Voltaire ist eines der drei Zitate, die der Autor seinem Roman vorangestellt hat. Und da es so gut zu diesem Buch passt, habe ich es auch als Leitmotiv vor meine Rezension gesetzt.
Ein Kind ohne Kindheit
José Antonio Maria Vaz ist Bäcker in einem afrikanischen Land, das erst vor einigen Jahren selbständig wurde. Er arbeitet für die 90-jährige Dona Esmeralda, eine rüstige und selbstbewusste alte Frau, die außer ihrer Bäckerei auch noch ein Theater leitet. Sie ist die Tochter des berüchtigten Dom Joaquim, der jahrzehntelang als Gouverneur das Land verwaltete.
Doch eigentlich geht es ja in diesem Buch um Nelio. Nelio ist 10 Jahre alt und eines der Straßenkinder der Stadt. Doch er ist nicht nur irgendein Straßenkind, sondern ein ganz besonderes. Was er in seinem kurzen Leben schon erleben musste, hat ihn geprägt, so dass er bereits jetzt mit der Weisheit eines alten Mannes spricht.
Die Geschichte beginnt, als José den kleinen Nelio im Theater nachts auffindet, von zwei Schüssen in die Brust getroffen. Er will ihn ins Krankenhaus bringen, doch Nelio lehnt dies ab. Nelio möchte, dass ihn José auf das Dach der Bäckerei bringt, von wo er einen guten Blick über die Stadt hat. José versorgt das Kind, so gut es ihm möglich ist, doch beide wissen, dass er sterben wird.
Tagsüber arbeitet José in der Bäckerei, nachts sitzt er bei Nelio und lauscht dessen Lebensgeschichte. Als kleines Kind hatte Nelio ein schönes Leben in seinem Dorf mit seinen Eltern und seinen Geschwistern, bis zu jenem Tag, als Banditen das Dorf überfielen, die Hütten in Brand setzten und zahlreiche Leute töteten. Dabei musste Nelio zusehen, wie seine kleine Schwester, noch ein Baby, seiner Mutter entrissen und grausam getötet wurde.
Die Banditen nahmen anschließend die übrigen Dorfbewohner mit. Die Kinder wurden von ihren Eltern getrennt und sollten zu Kindsoldaten ausgebildet werden. Einer der Banditen reichte Nelio ein Gewehr und befahl ihm, seinen Vetter, kaum älter als er selbst, zu erschießen. In seiner Verzweiflung handelte Nelio blitzschnell, richtete das Gewehr auf den Banditen, schoss ihm in die Brust, und ergriff die Flucht.
Und weiter erzählt Nelio seine Geschichte: wie er eine Zeit lang mit einem Gefährten weiter reiste und schließlich das Meer und dann die Stadt erreichte, wie er sich einer Bande von Straßenkindern anschloss und schließlich ihr Anführer wurde. Doch noch immer weiß José nichts darüber, wer auf ihn geschossen hat und warum.
Revolution - Überlebenskampf für die Bevölkerung
Im Vergleich dieses Buches mit den Wallander-Kriminalromanen tritt deutlich die Diskrepanz zwischen den "beiden" Leben in der Biografie des Henning Mankell zutage. Vermutlich hat der Autor in diesem Werk eigene Erfahrungen mit verarbeitet, denn auch das Theater in Afrika spielt hier eine zentrale Rolle, wenn auch das Land, in dem der Roman spielt, nirgends explizit beim Namen genannt wird. Die Kriminalromane von Henning Mankell werden ja oft und gerne als schwermütig bezeichnet. Doch erst nachdem man "Der Chronist der Winde" gelesen hat, weiß man, wie schwermütig, aber auch wie wortreich und phantasievoll Mankell zu schreiben in der Lage ist.
An der Schreibe eindeutig erkennbar ist er schon, der Mankell. Kurze prägnante Sätze in einfacher, aber deutlicher Schreibweise prägen auch dieses Werk. Doch damit sind auch die Gemeinsamkeiten schon hinreichend beschrieben. Eine solche Phantasie wie hier kennt man vom Autor ansonsten nicht. Deutlich stellt er hier den Charakter des Buches als Erzählung heraus. Direkte Rede wird dabei nur durch einen einleitenden Gedankenstrich dargestellt, fließt ansonsten mit in den gesamten Text ein.
Aufgebaut ist der Roman in neun je etwa 25 Seiten lange Kapitel, die als erste bis neunte Nacht überschrieben sind und den Zeitraum vom Auffinden des kleinen Nelio bis zu seinem Tod schildern. Einige afrikanische Worte wurden dabei mit in den Text übernommen, kursiv gedruckt und im Anhang erklärt. Zug um Zug erfährt der Bäcker José die Geschichte von Nelio und so nach und nach verändert sich dabei auch José und wird vom Bäcker zum Chronisten, und erst ganz zum Schluss wird dem Leser offenbart, auf welch tragische Weise die tödlichen Schüsse fielen.
"Der Chronist der Winde" ist ein sehr leises, trauriges, aber auch humorvolles Buch, das einige schreckliche Ereignisse und viel Elend schildert. Ein Roman, der emotional sehr bewegend ist, doch nicht nur aufgrund dieser negativen Erfahrungen, die die Straßenkinder machen müssen, sondern auch durch die Schilderung, wie sie ihr Leben meistern und dabei auch durch viel Phantasie die schönen Seiten des Lebens erkennen können und für sich selbst positive Dinge herausziehen können. Man könnte sagen, Mankell befindet sich hier auf einer Gratwanderung zwischen schrecklicher Realität, die ein Außenstehender sieht und dem phantasievollen Spiel, das die Kinder aus ihrem Schicksal machen.
Die Straßenkinder sind sehr lebensnah dargestellt und hervorragend charakterisiert. Tagtäglich auf der Suche nach der Nahrung zum Überleben schon früh auf sich allein gestellt, bleibt doch auch das Kindliche in ihnen. Man bekommt als Leser schnell eine Beziehung zu den Charakteren. Zu Mandioca, der Erde in seinen Hosentaschen hat und dort Zwiebeln und Tomaten wachsen lässt. Zu dem schwerfälligen Tristeza, der neue Turnschuhe bekommen soll, wenn er es schafft, schneller zu denken. Oder zu dem schwerkranken Alfredo Bomba, dem die anderen unbedingt seinen letzten Wunsch erfüllen wollen, das Paradies zu finden, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist.
Revolution. Allgegenwärtig sind solche Meldungen aus irgendeinem afrikanischen Land. Doch kaum jemand macht sich bewusst, was dies für die Bevölkerung bedeuten kann. Banditen ziehen im Land umher und überfallen und vernichten friedliche Dörfer und rauben den Bewohnern ihre Existenzgrundlage. Kinder werden an Waffen ausgebildet und zu Guerilleros gemacht und ihnen damit die Kindheit geraubt.
Mankell appelliert mit diesem Buch an die Menschenrechte und erinnert seine Leser daran, dass jeder in die Lage kommen könnte, in der er alles verliert und nur noch ums nackte Überleben kämpfen muss.
Trotz seines unverkennbaren Stils kann Henning Mankell auch ganz anders. Hier zeigt sich, dass der Schwede nicht nur hervorragende Unterhaltungsliteratur schreibt, sondern wirklich ein großer und anspruchsvoller Schriftsteller ist. Wer diesen Roman gelesen hat, wird keinen Wallander-Roman mehr als schwermütig bezeichnen.
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