Die Konturen lösen sich auf
Luca stirbt. Der Tod des jungen Mannes ist die einzige unumstößliche Tatsache in Dea Lohers Roman "Bugatti taucht auf". Eine Gruppe junger Männer hat Luca zusammengeschlagen und getreten, solange bis er sich nicht mehr rührte. Warum aber musste der junge Mann 2008 an der Fasnacht in Locarno sterben? Die Autorin bietet den Lesern zunächst ein vermeintliches Motiv an: Die Lust eines Einwanderers vom Balkan, jemanden zu misshandeln oder gar zu töten. So liegt der Fall für einen Moment scheinbar klar auf dem Tisch. Doch Dea Loher macht es dem Publikum nicht so einfach: Äußerst geschickt verwischt sie die Konturen, bis nicht mehr erkennbar ist, wer wann zugeschlagen hat und weshalb. Die Dramaturgie des Romans erinnert an stickige Vernehmungszimmer und einen Stapel Verhörprotokolle auf dem Tisch eines geforderten – oder überforderten? – Beamten. So bleibt die Frage nach dem Täter ebenso im Raum stehen, wie die Frage, weshalb es überhaupt zu diesem tragischen Tod kommen musste. Wobei Dea Loher zwischen den Zeilen die Migrationsproblematik durchscheinen lässt, die einen möglichen Nährboden für den Gewaltausbruch der drei jungen Männer darstellt.
Dea Loher kann bei diesem Roman ihre Nähe zum Theater – sie hat bereits mehrfach erfolgreiche Theaterstücke geschrieben – gewinnbringend einsetzen. Sie agiert scheinbar emotionslos und protokollarisch, lässt die Ereignisse aber gerade dadurch in einem immer schneller drehenden Strudel um die eigene Achse wirbeln. Dass diese – weniger einem romanhaften Verlauf folgende – Darstellung nicht allen Lesern gerecht werden kann, liegt auf der Hand. Die Skizzierung der Auseinandersetzung zwischen den jungen Leuten, die für Luca mit dem Tod endet, verlangt höchste Konzentration. Selbst dann wird der Leser nicht umhin kommen, die eine oder andere Stelle ein weiteres Mal zu lesen, um in der Lage zu sein, die Aussagen richtig zuzuordnen. Mit diesem verhältnismäßig einfachen aber wirkungsvollen Instrument versetzt Dea Loher den Leser in die Situation der Ermittler, die versuchen müssen, aus den einzelnen Verhör-Szenen die Geschehnisse an der Fasnacht zu rekonstruieren. Nur wenn zweifelsfrei feststeht, wer den Tod Lucas verursacht hat, kann dem Recht Genüge getan werden. Doch die zahlreichen Zeugen widersprechen sich – und zahlreiche Beteiligte ändern ihre Aussage im Verlauf des Ermittlungsverfahrens.
Zunächst nicht erkennbar ist der Zusammenhang der tragischen Geschichte um Lucas Tod und den Auszügen aus dem Tagebuch Rembrandt Bugattis, geschrieben in den Jahren 1913 bis 1916. Die beiden Erzählungen scheinen weder örtlich noch von den Beteiligten her miteinander verbunden zu sein. Einzig der Umstand, dass auch in den Tagebuchauszügen vom tragischen Tod eines zufällig betroffenen Menschen die Rede ist, lässt eine – wenngleich weit her geholte – Parallele erkennen. Erst die im dritten Teil des Romans beschriebene Bergung eines alten Bugattis aus den Fluten des Lago Maggiore steht in Verbindung zu den ersten beiden Teilen und baut so eine Brücke zwischen dem Tagebuch und Lucas Tod. Angesichts der Tragik, die dem Roman zugrunde liegt, ist es nicht leicht, eine versöhnliche Ebene zu finden. Dea Loher bietet zumindest eine an, allerdings eine recht wacklige. Genau diese Erkenntnis allerdings, macht die Faszination von "Bugatti taucht auf" aus. Die Überlebenden gehen ihren Weg weiter und versuchen, jeder auf seine eigene Weise, mit dem Geschehenen umzugehen.
Dea Loher bedient sich einer knappen, leicht distanzierten Sprache – sowohl beim an sich persönlich gefärbten Tagebuch wie auch in der protokollartigen Schilderung von Lucas Tod und dem romanhaftesten der drei Teile, der Bergung des Bugattis. Sie verlangt von den Lesern ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, bietet ihm dafür eine einzigartige Mischung von Betroffenheit, Distanz und letztlich auch Voyeurismus. Dass sie dabei einen eher ungewöhnlichen Weg beschreitet, kommt dem Roman nicht nur zugute. Da und dort überschreitet sie Grenzen zur Langatmigkeit und lässt leichten Überdruss aufkommen. Dennoch präsentiert sie mit "Bugatti taucht auf" ein Stück Faszination und erweist sich als geschickte Erzählerin.
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