Melancholie und Aufbruch in Mecklenburg-Vorpommern
"Es gibt keine Kneipe in Bresekow. Es gibt überhaupt nichts. Es ist das Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört." Das sagt die jugendliche Romy über das Dorf, in dem sie lebt. Kein Wunder, dass die Bewohner des Dorfes, in dem die Handlung von Judith Zanders Debütroman "Dinge, die wir heute sagten" spielt, unaufhaltsam um eine leere Mitte kreisen.
Bresekow, ein fiktiver Ort in Mecklenburg-Vorpommern, erinnert an Jerichow in Uwe Johnsons "Jahrestage", mit dem Judith Zanders Roman auch sonst einiges gemeinsam hat. Etwa die Wellen der Ostsee im ersten Absatz. Bei Judith Zander sind es Wellen, die "gemächlich sich dem Strand überlassen". Aber dann schlagen die Wellen plötzlich hoch: Die alte Anna Hanske ist gestorben und ihre Tochter Ingrid kehrt nach zwanzig Jahren – vorübergehend – ins Dorf zurück, mit ihrem irischen Ehemann und Sohn John im Schlepptau. Das setzt bei den älteren Dorfbewohnern Erinnerungen in Gang und bei den Jüngeren Sehnsüchte nach einem anderen Leben.
Judith Zander, 1980 im vorpommerschen Anklam geboren, wählt für ihren Roman eine ähnliche Form wie Andrea Maria Schenkel sie für "Tannöd" gefunden hat. Sie erzählt ihre Geschichte durch die Augen einzelner Dorfbewohner. Wie Trabanten kreisen diese um das Geheimnis von Ingrid, die zu DDR-Zeiten alles hinter sich gelassen und "rübergemacht hat".
Die jugendliche Romy und ihre Eltern, die 17-jährige Ella, ihre Eltern und ihre Großmutter, eine Freundin der Anna Hanske, aber auch die Gemeinde, der Pastor oder der Psychiatrie-Insasse Henry kommen in inneren Monologen zu Wort, die Minikapitel bilden. Die Vielzahl der Stimmen und Personen verlangt dem Leser zunächst einiges ab, macht aber den besonderen Lesereiz aus. Wie die Dorfbewohner kreist der Leser um Ingrids großes Geheimnis. Ingrid selber will allerdings nicht reden: ihre Familie spricht für sie. So bleibt es am Ende bei "Mutmaßungen über Ingrid", auch wenn ihr Geheimnis schließlich gelüftet wird.
Judith Zander gelingt es, für ihre Erzähler eigenwillige, ausdrucksstarke Stimmen zu finden, die den Roman, der nun für den Ulla-Hahn-Preis nominiert ist, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich vielfältig machen. Romy und Ella sprechen im schönsten Umgangsdeutsch, Anna Hanskes Freundin plattdeutsch eingefärbt, beim Pastor schlägt die Bibel durch, und wenn der Gemeindechor seinen Gesang "auf Platt" anstimmt, erkennt man die Lyrikerin, die Judith Zander auch ist.
Und immer wieder überrascht die Autorin durch treffende Bilder, unverbrauchte Metaphern, Sprachspiele und messerscharfe Beobachtungen, die einen an Elfriede Jelinek denken lassen, etwa wenn es über Ingrid heißt:
"... was geht einen denn der Platzregentropfen an, der einen trifft, was kann man letztlich für den Jauchespritzer am Bein –, du hast versucht, das alles auf Abstand zu halten, so weit weg, ein Drecklappen zwischen spitzen Fingern am ausgestreckten Arm."
Aber es gibt noch einen zweiten roten Faden in Judith Zanders Roman, der unter anderem beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet wurde und auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2010 stand. Ella und Romy, die beiden Gymnasiastinnen, verlieben sich in Ingrids Sohn John, der in ihren Augen wie der junge John Lennon aussieht. John wirkt wie ein Katalysator, der Ella und Romy ein Stück weit aus ihrer Einsamkeit herausholen kann. Denn auch wenn es durchaus noch andere Jugendliche in Bresekow gibt, wollen die beiden Mädchen nichts mit welchen zu tun haben, die sich auf der Elpe, einem leerstehenden LPG-Gebäude treffen, um dort zu saufen, zu kiffen und rechte Sprüche zu kloppen. Doch auch Ella hütet ein Geheimnis. Und am Ende geht es auch um die Frage, wer denn nun wen geküsst hat.
Man kann "Dinge die wir heute sagten" über weite Strecken auch als einen wunderbaren Roman über Eltern und Kinder lesen, den Sorgen der Eltern und der zickigen Genervtheit der Jugendlichen verleiht Judith Zander trefflich Ausdruck.
In ihrem Roman, dessen Titel einem Beatles-Song entstammt, kommen außerdem John und Paul zu Wort, zwei getrocknete Flusskrebse, die Romy wie ihren Augapfel hütet. Immer mal wieder melden sie sich mit Beatles-Songs, die in der bewusst unbedarften deutschen Übersetzung wie Pubertätspoesie wirken. Aber auch andere Dorfbewohner verbinden mit den Beatles viel. Für Ellas Eltern waren die Beatles, deren Alben sie auf verschlungenen Wegen in Ostberlin besorgen mussten, der Inbegriff des inneren Widerstands, und ihre Tochter Ella findet die Beatles natürlich erstmal peinlich. Doch als Ella, Romy und John am Ende gemeinsam "Hey Jude" singen, wirkt das wie der Einbruch des Lebens in das weite Feld der Einsamkeit.
In seinem Panorama der ländlichen Tristesse und Gottverlassenheit erinnert "Dinge, die wir heute sagten" an Schilderungen, wie sie uns in ´Deutschboden" von Moritz von Uslar oder in Ingo Schulzes "Simple Storys" begegnen. Aber die Trostlosigkeit bei Judith Zander ist noch erbarmungsloser, wenn auch nicht so bösartig wie in Andrea Maria Schenkels bayerischem "Tannöd". Und am Ende gibt es Hoffnung. Wenn der Roman mit "Strawberry Fields Forever" von den Beatles ausklingt, darf man wohl sicher sein, dass Romy und Ella ihrer Heimat Bresekow schon bald den Rücken kehren werden. Die insgeheim wirkenden Zentrifugalkräfte des Nichts werden sie aus Bresekow herauskatapultieren.
Mit "Dinge, die wir heute sagten" ist Judith Zander ein großartiges Debüt gelungen. Auf den nächsten Roman der Autorin darf man gespannt sein.
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