Die wunderbare Musik des Fast-Zufalls
"...für die Seltsamkeit des Lebendigsein", lautet Paul Austers Widmung für seine Frau Siri Hustvedt am Ende des Romans. Diese Lebendigkeit prägt auch die Geschichte um Miles Heller. Wieder einmal wundert sich Paul Auster übers Leben. Wieder einmal krönt er den Zufall zum Scharnier der Jahre und erzählt von Menschen in einem besetzten Haus im "Sunset Park", deren unterschiedliche Lebensläufe sie dort stranden lassen.
Miles Heller ist nicht gerade vom Leben verwöhnt. Nach der Scheidung seiner Eltern in einer Patchwork-Familie aufgewachsen, glaubt er Schuld am Tod seines Stiefbruders zu haben. Er flüchtet aus der Familie, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und lebt zu Beginn des Romans als Entrümpler in Florida. Eines von Paul Austers typischen Wohlstandskindern, die auf der Flucht vor sich selbst nach Erlösung Ausschau halten. Zumeist sind sie mit sich so uneins, dass sie wie in "Mond über Manhattan" oder in "Die New York-Trilogie" lieber andere Leben leben, als ihr eigenes ins Lot zu bringen.
Miles Heller hat sich längst schon wieder in die Nesseln gesetzt. Er ist unsterblich in die Minderjährige Pilar verliebt, deren Familie er mit Möbeln aus den zu entrümpelnden Häusern besticht, damit sie seine Liaison billigen und es zulassen, dass Pilar zu ihm zieht. Was solange gut geht, bis die Raffgier der ältesten Schwester Miles dazu zwingt, nach New York zu flüchten und das Angebot seines einzigen Freundes Bing Nathan anzunehmen.
Auster ist ein Meister im Erfinden von Biografien. Es kommt einem so vor, als folgten wir seinen Beobachtungen, die er sich notiert hat, als hörten wir jenen Gesprächen zu, die er belauscht hat. Er führt diese Leben zusammen, weil er als Autor weiß, dass sich Konflikte, Wahrheiten, Dramen, selbst das kleine Glück nach kurzer Zeit aneinander reiben. Das ist nicht spektakulär, das reißt nicht mit, das zieht sich durch alle Romane, als würden wir ein Fotoalbum aufschlagen. Manche Familien können sich glücklich schätzen, dass sie einander zufällig begegnet sind. Andere würden das Schicksal auf Knien um Vergebung bitten, wenn dem nicht so wäre. Auster zu lesen heißt, Nachsicht zu üben, seinen Helden Schwächen zu gestatten. Das Leben ist, wie es ist, und wenn der Zufall es will, werden wir glücklich sein oder auch nicht. Aufs Paradies brauchen wir nicht zu warten.
Sie alle in "Sunset Park" wissen, dass ihre Bleibe nur zeitlich begrenzt ist. Egal, ob Alice Bergstrom nur ihre Dissertation fertig schreiben will und kein Geld dazu hat, sich eine andere Wohnung zu nehmen. Egal, ob Miles Heller eine Art freiwilliges Exil bezieht, um abzuwarten, bis Pilar alt genug ist, um offiziell mit ihm zusammen leben zu dürfen. Egal, ob Bing Nathan Geld sparen will, um seine Band über Wasser zu halten. Oder ob Ellen Brice einfach Angst hat, allein zu sein. Die Verlustängste, die Ungewissheit verbinden sie. Wie eine Art Schutzgemeinschaft harren sie aus, obwohl sie natürlich wissen, dass sie geräumt werden. Eines Tages.
Austers große Themen Schuld und Sühne, Zufall und unweigerliches Eintreffen bestimmter Ereignisse werden in seinem neuen Roman auf fesselnde Weise aufgefrischt. Natürlich darf der Sport nicht fehlen. Auster ohne Baseball ist kaum vorstellbar. Mit ihm werfen wir einen Blick auf die Schicksale amerikanischer Sportlegenden. Aus der Karriere gerissen, den Ruhm um ein Haar verpasst, wachsen die gescheiterten Stars zu einem Synonym des amerikanischen Lebens an.
"Wieder einmal sind die Würfel also gerollt, wieder einmal wurde ein Los aus der schwarzen Eisentrommel gezogen, noch so ein Zufall in einer Welt voller Zufälle und unaufhörlichem Chaos."
Auster weiß auch darum, wie bedroht selbst die kleinste Verschnaufpause ist. Wie wenig man sich in Sicherheit bringen kann, solange das eigene Schuldgefühl einem an den Fersen heftet. Als zweiten Strang legt er die Geschichte Morris Hellers, des Vaters, an. Er ist Verleger eines kleinen Verlags. Er ist seinem Sohn all die Jahre auf der Spur geblieben, hat sich manchmal heimlich versteckt, um ihn zu sehen. Aber er hat die Geduld aufgebracht, seinen Sohn nicht einzufangen und zurückzuholen, sondern auf ihn zu warten.
"Sunset Park" schildert nicht nur das Leben einiger Versprengter, die zueinander finden. Der Roman ist vor allem eine Vater-Sohn-Geschichte. Das zweite große Thema, das Auster immer wieder in den Bann zieht. Was ist Familie? Wie lebt es sich abseits ohne Vater? Die Mutter eine Schauspielerin, die Miles in jungen Jahren dem Vater überlassen hat, spielt da weniger eine Rolle. Es ist der Vater, dem Miles seine Tat, den Unfall gestehen muss.
Wir folgen verschiedenen Geschichten, doch nie haben wir das Gefühl, das sie separat verlaufen. Es besteht ein Muss, dass ausgerechnet diese Menschen sich begegnen werden. Wir können noch soweit voneinander entfernt leben. Wir können noch so unterschiedliche Ansichten haben. Eines Tages begegnen wir uns. Darauf läuft das Leben hinaus. Nicht auf Erlösung.
Paul Auster schlägt uns mit "Sunset Park" erneut mit seinem großstädtischen Sound in Bann, der sein Scheinwerferlicht zu fokussieren versteht.
Durchs Leben müssen Austers Helden selber hindurch.
Deine Meinung zu »Sunset Park«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!