150 Jahre Familien und Zeitgeschichte
Drei Familien, acht Generationen und über 150 Jahre Zeitgeschichte – das ist der Bogen, den Michèle Minelli in ihrem neuesten Roman "Die Ruhelosen" spannt.
Entgegen dem Eindruck, den man durch Lesen des Klappen- bzw. Umschlagtextes bekommen könnte, geht die Autorin dabei chronologisch vor. Die als Protagonistin suggerierte Aude entstammt der sechsten Generation und tritt damit erst später im Buch auf. Auch die Beschäftigung mit ihrer Familiengeschichte nimmt erst auf den letzten ca. 150 Seiten Raum ein und ist dabei noch nicht einmal das zentrale Thema. Hier hat der Aufbau-Verlag bei der Wahl vor allem des Textes auf der Umschlaginnenseite danebengegriffen und damit ein Beispiel dafür geliefert, dass solche Texte beim Leser falsche Erwartungen oder zumindest irrige Vorstellungen wecken.
Doch ist dies nicht der Autorin anzulasten und noch viel weniger dem Buch, das über weite Teile sehr unterhaltsam geschrieben ist.
Die Geschichte der drei Familien beginnt an unterschiedlichen Orten unter unterschiedlichen Umständen. Doch eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie ziehen von Generation zu Generation durch die Lande, suchen sich neue Orte zum Leben und Arbeiten, bis schließlich alle drei Familien sich in der Schweiz niederlassen, wenn sie auch dort nicht an einem Ort sesshaft werden. Auch sind die Familienverhältnisse alles andere als einfach. Es gibt immer wieder Probleme und schwierige Beziehungen. Entweder zwischen den Eheleuten oder zwischen Eltern und Kindern oder auch zwischen allen. Das macht das Ganze natürlich interessant zu lesen, denn glückliche Familien über acht Generationen hinweg wären ziemlich langweilig. Andererseits würde man als Leser gerne öfter noch bei der einen Familie, der einen Generation verweilen und mehr über die Motive und Beweggründe erfahren. Doch auch wenn das Buch mit knapp 750 Seiten nicht gerade dünn zu nennen ist, so ist es doch ein Ding der Unmöglichkeit, eine tiefgehende Charakterstudie über jedes Familienmitglied der drei Familien in den 150 erzählten Jahren anzufertigen. Die ganze Geschichte wirkt wie ein Kaleidoskop oder ein Mosaik, das sich durch die einzelnen Episoden (zwischen denen manchmal ein Jahrzehnt oder mehr liegen kann) zusammensetzt. Doch leider hat man als Leser eben auch manchmal das Gefühl, dass ein Puzzelteilchen fehlt, dass das Bild nicht ganz fertig ist, dass es insgesamt nicht ganz rund ist. Zu undurchsichtig sind manche Beziehungen, Probleme und Charakterzüge.
Sprachlich lässt sich der Roman angenehm lesen. Michèle Minelli schreibt ihn einer schönen, bild- und gehaltvollen Sprache, von der man sich gerne durch die Geschichte tragen lässt.
Neben den einzelnen Familiengeschichten wird auch ein Stück Zeitgeschichte entworfen. In 150 Jahren passiert viel, die Gesellschaft und die politischen Verhältnisse ändern sich, die technischen Neuerungen bieten ungeahnte und weitreichende Möglichkeiten. Das alles verwebt sich gekonnt und fast nahtlos zu einem bunten und faszinierenden Portrait. Doch auch hier würde man gerne das ein oder andere Mal etwas mehr über die politische Situation, über die Geschehnisse der Zeit erfahren. Besonders nicht-schweizerischen Lesern erschließt sich die Wichtigkeit eines Ereignisses oder die sich daraus ergebenden Veränderungen nicht immer. Da ist dann Eigenrecherche gefragt.
Doch trotz dieser Schwächen, ist "Die Ruhelosen" eine unterhaltsame Lektüre, die das Augenmerk auf die kleinen Dinge des Lebens lenkt und auch die Wichtigkeit und den Einfluss von Familie und Familienbande aufzeigt und dem Leser einige unbeschwerte Lesestunden bescheren kann. Dafür kann man auch einmal die eine oder andere Länge in Kauf nehmen.
Lobend erwähnt werden sollte noch die Ausstattung des Buches. Als Hardcover mit Lesebändchen ist auch die Umschlaggestaltung sehr gefällig und zusätzlich finden sich auf der Umschlaginnenseite die Stammbäume der drei Familien, was es sehr erleichtert, den Überblick zu behalten.
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