Poetisch und berührend
"Eine Liebesgeschichte, die in ein magisches Birma entführt": Das Zitat auf dem Buchcover von "Das Herzenhören" ist nicht unbedingt dazu angetan, dem Roman einen zweiten Blick zu gönnen. Doch genau das sollte tun, wer offen ist für eine höchst poetische, berührende Geschichte. Tatsächlich präsentiert der Autor Jan-Philipp Sendker eine Liebesgeschichte. Aber eine, die sich weitab vom gängigen Schema bewegt. Als sich Mi Mi und Tin Win begegnen, sind sie beide Außenseiter der Gesellschaft. Die beiden Heranwachsenden sind handicapiert. Während Tin Win sein Augenlicht verloren hat, kann Mi Mi nicht gehen. In Birma bedeutete dies, keine Zukunft zu haben. Doch die Beiden lernen, mit ihren Sinnen und ihrer Kraft das jeweilige Defizit beim anderen auszugleichen und auf diese Weise einem Gleichklang der Herzen zu folgen. Da aber wird Tin Win aus seiner Welt gerissen und mit einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert. Ohne, dass er sich dem Neuen hätte Verschließen können, bleibt die in Birma zurückbleibende Mi Mi das Zentrum seines Denkens. Bis ihn die Ereignisse zwingen, einen anderen Weg zu gehen.
Es ist keineswegs so, dass die ersten Zeilen des Buches bereits auf die Feinheiten der Geschichte schließen lassen. Zunächst sieht sich der Leser mit der Geschichte der New Yorker Anwältin Julia Win konfrontiert. Die junge Frau muss sich damit auseinander setzen, dass ihr Vater vor vier Jahren seiner Familie von einem Moment auf den anderen den Rücken kehrte. Eine Ausgangslage also, die dem Schema einer leicht lesbaren aber kaum Aufsehen erregenden Geschichte entspricht. Selbst als Julia auf einen alten Liebesbrief stößt und damit erstmals eine Ahnung davon bekommt, dass ihr Vater Einiges vor seiner Familie verborgen hatte, bewegt sich der Autor noch auf unspektakulärem Terrain. Bis zu jenem Zeitpunkt, als Julia der Spur ihres Vaters bis in dessen ursprüngliche Heimat Birma folgt. Dort begegnet sie dem Alten U Ba, der sie erwartet zu haben scheint. Und damit taucht der Leser unvermittelt in die eigentliche Geschichte ein.
Jan-Philipp Sendker entpuppt sich als feinfühliger und vor allem begnadeter Erzähler. Es gelingt ihm, die Welt von Mi Mi und Tin Win auf eine Art darzustellen, die weder Raum für Kitsch noch für Langeweile lässt. Die Geschichte der Beiden wird auf eine ungeschminkte, direkte Weise erzählt, der ein besonderer Zauber inne wohnt. Denn gerade der Verzicht auf jedes schnörkelige Detail, jede übertreibende Schilderung macht "Das Herzenhören" zu einem Stück Poesie. Der Leser vermag später nicht zu sagen, ob es das Selbstverständnis ist, mit dem sich die beiden Außenseiter begegnen, das Vertrauen, mit denen sie sich aufeinander verlassen oder die Fähigkeit, eigene Beschränkungen durch die Kraft eines anderen zu überwinden: die Geschichte fasziniert und fesselt. Längst vergessen ist die etwas plumpe Ankündigung auf dem Cover. Selbst jene, die zwar stille Geschichte mögen, den Liebesgeschichten selber aber kaum etwas abgewinnen können, werden sich dem speziellen Rhythmus dieser Erzählung kaum entziehen können.
Es ist keine große Literatur, die Jan-Philipp Sendker hier vorlegt. Aber es ist ein wunderschöner Roman, der beweist, dass es durchaus Liebesgeschichte gibt, die nicht dem vermuteten Klischee folgen. Und die weit mehr zu erzählen haben, als nur die Geschichte zweier Menschen, die sich finden, sich wieder verlieren und doch nie voneinander getrennt sind. "Das Herzenhören" tritt auch den Beweis an, dass die Zeit der großen Erzähler längst noch nicht vorbei ist und es zumindest dieser Autor schafft, die Herzen seiner – den leisen Tönen gegenüber offenen - Leser hören zu lassen.
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