Die Wirklichkeit kühlt zuweilen aus
Ralf Rothmanns erzählerische Welt fließt zwischen dem Hunger nach Leben und dem poetischen Stillstand dahin. Seine Helden haben längst einen Zufluchtsort gefunden und sind sich doch ihres Scheiterns bewusst. Sie versuchen, sich ihres Lebens zu versichern, indem sie sich erinnern. Nicht selten in den Ruhrpott zwischen Essen, Bottrop und Oberhauen zurückkehren. In die Straßenschluchten voller Balkone, die zur falschen Seite rausgehen.
Schon in "Stier", seinem ersten Roman, verstand der Autor es, auf humorvolle Weise aus einem Berliner Hinterhof auszubrechen und den Bogen zurück in die 70er zu jenen wortkargen Vätern zu schlagen, die noch im Pütt ihr Geld verdienten. Es sind die schmalbrüstigen, mit dünnen Stimmen ausgestatteten "Westernhagen-Typen", die sich wie in "Flieh, mein Freund!" mit in der Welt herumreisenden, sexuellen Avancen nicht abholden Müttern herumschlagen.
Doch Rothmann hat den Heimatboden längst gesprengt. Seine Geschichten spielen in der Uckermarck, am Müggelsee, führen nach Polen. West meets East. So auch in der "Hunger der Vergesslichkeit", in der die Düsseldorfer Karriere in der Liebe von Mann zu Mann strandet und ein spätes Glück sucht.
"Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie."
schreibt er in "Junges Licht". Oder doch? Oder gerade dann?
In der ersten Geschichte "Abschied von Montparnasse" erzählt Rothmann gleich von der Brüchigkeit der Freiheit. Ist Paris nicht die Stadt der Liebe? Könnte eine zufällige Begegnung zwischen einer Frau und einem Mann nicht zu einem fulminanten amour fous wie bei Anais Nin führen? Nicht bei Rothmann. Hier zerbricht die Leidenschaft an der Scham. Die Frau wird den Mann im Vorübergehen ansprechen, behaupten, sie würde ihn kennen. Wie der Autor diese verfängliche Situation auflöst, sei nicht verraten. Sie besitzt Charme und zeugt von der Zuneigung eines Autors zu seinen Figuren.
Rothmanns Sound wahrt die Balance zwischen einem äußerst bodenständigen Humor und dem sprachlichen Schwebezustand, was wohl geschieht. Da schickt ein Vater in "Alte Zwinger" anstatt seiner den Sohn zum Zahnarzt, damit er ihm einen Platz freihält, weil man zu der Zeit nicht sicher sein durfte, wann und ob man überhaupt an die Reihe kam. Kafka hätte daraus ein klaustrophobisches Szenarium entworfen, eine Kindheit voller Schrecken. Rothmann lässt den Vater wie einen Helden eintreffen, den Sohn als Belohnung mit dessen Fahrrad davon radeln, weil er kein eigenes besitzt, erst die Schrankwand abbezahlt werden muss. Der Junge wird im Verlauf der Geschichte weiterziehen, zu einer verrufenen Bardame gehen, die an einem Baggerloch für erste sexuelle Erfahrungen zuständig ist. Es sind diese bizarre Erlebnisse, die Rothmanns Welt ihre Bodenhaftung verleihen.
In "Frischer Schnee" erwischt es erneut einen seiner sympathischen Loser. Zusammen mit einem Freund schleppt der Ich-Erzähler zwei Frauen ab, muss dann jedoch angesichts der vollkommen bekleidete Frau neben ihm im Bett, die er in den Armen hält, dem stöhnenden Liebespiel aus dem Nachbarzimmer lauschen. Auch hier fügt sich der Held. Was soll er auch tun, wenn sein One Night Stand gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und ihr nicht nach wälzendem Liebespiel zu Mute ist. So denkt er an den Schnee, der draußen fällt, den es zu räumen gilt, denkt an seine Kindheit, daran, dass selbst der Schnee ein Gedächtnis besitzt.
Noch mehr als in seinem Romanen, die aus vielen kleinen Geschichten zusammengesetzt sind, versteht der Autor sich in seinen Erzählungen darauf, den Moment festzuhalten, der verstört, seine Wirkung aber erst viele Jahre später verströmt. Dann, wenn wir uns Anfang Dreißig, Mitte Vierzig, in den Fünfzigern unsere Krise nehmen und über unsere Kindheit, unsere Familie nachdenken. Rothmann versucht zu verstehen. Freundschaften wie in "Traber-Sonate" werden noch einmal aufgesucht, um sich zu vergewissern, dass sie längst ausgelaufen sind. In "Othello für Anfänger" gewährt er einen kurzen Einblick in den Kern seiner Poesie.
Tiere spielen in seinen Geschichten immer eine Rolle und so verwundert es nicht, dass er angesichts von William Shakespeare in "Othello für Anfänger" immer Hühner versteht statt Hünen, weil er mit der finsteren Dramatik angesichts der wahren und kleinen Lügen nichts anzufangen versteht. Die Schicksalsfrage lautet nicht "Sein oder Nicht-Sein" sondern "Flatrate oder Prepaid?"
Seine Hommage an John Steinbeck kommt deswegen nicht von ungefähr, wenn ein Pfleger wie ein gutmütiger Riese aus "Of Mice and Men" auftritt. Zur triefender Tragödie will dieser Schriftsteller nicht fähig sein. Er erzählt lieber "von den Einser-Mädchen, die Hand in Hand zum Klo gehen und so tun wer weiß wie kostbar sie riechen". Diese ersten Lieben kennen wir alle. Und die Einser Mädchen kennen auch die Einser-Jungen. Und wir tragen sie mit uns durchs Leben, in dem eine winzige Bewegung, eine zufällige Begegnung, eine durchwachte Nacht, dazu führt, dass wir mit Rothmann aus unserem Leben heraustreten und sagen, kenne ich, bei mir war das so damals so, da gab es nämlich den...
Darin besteht die Kunst dieses Erzählers, er versetzt seine Leser in den Zustand, selbst über sich erzählen zu wollen.
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