Der 96-jährige, der ins Flugzeug stieg und verschwand
Luka Lewadski ist 96 Jahre alt, als sein Arzt ihm telefonisch mitteilt, dass sie dringend über seine Werte sprechen müssten. Überaus plastisch schildert Marjana Gaponenko in "Wer ist Martha?", wie Lewadski sich im ersten Schock übergeben muss, sein Gebiss herausfällt und "wie ein gekentertes Boot" im Erbrochenen schwimmt. Aber der Schock lässt schnell nach und macht einem gerechten Ärger über den "Arzt mit seinem grünen Schnabel" Platz.
Lewadski nimmt an, dass sich der Verdacht auf ein Lungenkarzinom bestätigt hat und beschließt, die verbleibende Zeit zu nutzen und das zu tun, was er in seinem Leben bisher versäumt hat: das Leben zu genießen. Der ehemalige Professor der Zoologie, der in einer kargen Wohnung in Kiew lebt, der niemals geheiratet und sich ganz den Vögeln und der Wissenschaft verschrieben hat, will im Luxus sterben, in dem er nie gelebt hat.
Luka Lewadski will noch einmal spüren, dass er lebt. Und er will sich jeden Tag ein Stück Schokoladentorte gönnen. Ein Stück Schokoladentorte, wie es ihm seine Mutter im Hotel Imperial in Wien zu bestellen pflegte. Also kleidet er sich in Kiew bei Herrenausstattern ein, die wie manche Vogelart vom Aussterben bedroht sind, erwirbt einen Trinkstock mit silbernem Knauf, steigt ins Flugzeug nach Wien und quartiert sich im Hotel Imperial ein.
Auf seine alten Tage findet Luka Lewadski in dem Butler Habib und dem musikbegeisterten Herrn Witzturn "ziemlich beste Freunde", mit denen er an der Hotelbar und anderswo über das Leben und das Sterben philosophieren kann. Die Dialoge mögen manchmal etwas langatmig sein, sie sind aber niemals langweilig. Denn den beiden älteren Herren ist lausbübischer Spaß keineswegs fremd: etwa wenn Lewadski mit Herrn Witzturn den Wiener Musikverein besucht, den er noch aus Kindertagen kennt und wo es vor allem um Sehen und Gesehen werden geht.
Ähnlich abgeklärt und gewitzt wie "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" setzt Lewadski seinen spontanen Plan energisch in die Tat um, und wie Allan Karlsson kann er (fast) auf ein ganzes Jahrhundert zurückblicken. Aber doch könnten die Bücher des Schweden Jonas Jonasson und der ukrainischen Autorin, die heute in Deutschland lebt und in deutscher Sprache schreibt, kaum unterschiedlicher sein. Ist Allan der gewitzte Schelm, der aus allem das Beste macht, wirkt Luka Lewadski wie aus der Zeit gefallen. Wie mit Scheuklappen geht er durchs Leben. Während um Lewadski herum die Geschichte tobt – Ostgalizien, in dem er als Sohn eines Försters und einer Wiener Ornithologin zur Welt kam, wird erst polnisch, später russisch und gehört heute zur Ukraine – und er immer wieder fliehen muss, widmet er sein Leben unbeirrt den Vögeln.
Lewadskis Leben ist eng mit aussterbenden oder ausgestorbenen Vogelarten verknüpft. So ist Lewadski am 1. September 1914 geboren, just an dem Tag, als "die letzte Wandertaube, ein wunderschöner Vogel mit roten Augen und schwarzem Schnabel in einem amerikanischen Zoo" verstarb. Und in Wien einen Namen gemacht hat sich Lewadski mit dem Waldtrapp, einer beinahe ausgerotteten Vogelart, die nur mit seiner Hilfe in Mitteleuropa wieder heimisch wurde. Lewadski lebt die ihm noch verbleibende Zeit wie der letzte einsame – und heroische – Vertreter einer ausgestorbenen Art: dem Bürger des entschwundenen Mitteleuropas, eines Kulturraums, der mit der österreichischen K.u.K-Monarchie untergegangen ist. Wer Martha ist, erfahren wir eher beiläufig, aber Martha entwickelt sich im Laufe des Romans zu einem Symbol, um das sich alles dreht.
Die 1981 geborene Marjana Gaponenko entfacht mit einer barocken, beinahe pompösen Sprache einen prächtigen Bilderrausch. Das mag zunächst befremdlich, gewollt und manchmal auch gestelzt erscheinen, erhält aber im Lauf der Geschichte auf eindringliche Weise Sinn: Während Gaponenko den Ornithologen am Anfang als alten, einsamen Mann schildert, der um das Leben einen Bogen macht, gilt es bald mehr und mehr einen Menschen zu entdecken, der sich mit beneidenswerter Leidenschaft den Vögeln und der Musik verschrieben hat.
Und immer wieder verwischen die Grenzen zwischen Luka Lewadski und der Vogelwelt. Am Ende schwelgt "Wer ist Martha?" in einem betörend schönen surrealistischen Gemälde aus Paradiesvögeln, sterbenden Schwänen und "Freude schöner Götterfunken".
Mit "Wer ist Martha?" ist Marjana Gaponenko ein ganz besonderer Roman gelungen, in einem eigenwilligen, ornamental-prachtvollen Stil, der keine Angst vor Pathos kennt, aber niemals kitschig wirkt. Mit kraftvollen Pinselstrichen zeichnet die Autorin das Bild einer überaus reichen Epoche. Der Epoche eines Mitteleuropa, das sich als einheitlicher Kulturraum verstand. Und wer weiß? Ebenso wie der Waldtrapp wieder ausgewildert wurde, könnte ja auch der Mitteleuropäer zu neuem Leben erwachen ...
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