Ein besonderer Junge

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • : dtv, 2012, Titel: 'Ein besonderer Junge', Seiten: 180, Übersetzt: Sabine Müller, Holger Fock
Ein besonderer Junge
Ein besonderer Junge
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Rita Dell'Agnese
781001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2012

Grimbert führt mit straffen Zügeln

Was macht Besonderheit aus? Diese Frage stellt Philippe Grimbert ins Zentrum seines Romans "Ein besonderer Junge". Grimbert präsentiert gleich mehrere Antworten: Zum einen in der Figur von Iannis, dem 16-jährigen Jungen, der sich sprachlos mitteilt aber oft nicht verstanden wird. Zum anderen ist es der Protagonist Louis, der das Attribut "besonders" für sich in Anspruch nimmt. Louis übernimmt für eine beschränkte Zeit die Aufgabe, sich in einem Ferienhaus in Horville um Iannis zu kümmern – und gerät damit in ein Spannungsfeld, mit dem er nicht gerechnet hat. Iannis Mutter Helena, Autorin erotischer Romane, nutzt die Intimität des Feriendomizils in der Normandie, um sich Louis aufzudrängen. Daraus konstruiert Grimbert eine an sich simple Geschichte um Beziehung und Abhängigkeit, die er durch verschiedene Komponenten anreichert. Gerade die klare Linienführung der Geschichte lässt den Leser aber aufmerksam bei der Sache bleiben. Philippe Grimbert erlaubt kein Abschweifen. Selbst bei den Rückblenden in Louis`Kindheit – er verbrachte einst glückliche Tage im Ferienort Horville – bleibt Grimbert bei der Sache und führt den Leser straff durch die Geschichte.

Es ist wohl Grimberts Verzicht darauf, das Geheimnis um Iannis Wesen zu lüften, der die Dynamik des Buches prägt. Die Interpretation von Iannis` Verhalten bleibt dem Leser überlassen, ganz so, als sei er zufälliger Zeuge des Geschehens, ohne jedoch Zugang zu den Daten im Hintergrund zu haben. So bleibt der Leser neugierig auf die Entwicklung der Geschichte. Zu keinem Zeitpunkt von einem theoretischen Wissen um die typischen Symptome einer Krankheit gehemmt, kann sich der Leser ebenso auf Iannis einlassen, wie es Louis tut. Die Spanne zwischen Anziehung und Ekel ist klein – Iannis Anderssein fordert heraus und beängstigt gleichermaßen, wie es fasziniert. Es ist aber weniger der Junge selbst, der den Reiz ausmacht. Vielmehr ist es die wachsende Beziehung zwischen dem 16-Jährigen und seinem Betreuer Louis, die über ein großes Potenzial verfügt.

Nun müsste man davon ausgehen, dass das Verhalten Helenas, die in Louis ein willkommenes Opfer ihrer sexuellen Auswüchse sieht, den feinfühlig aufgebauten Plot stört. Doch fügt Grimbert die - vom langjährigen Versuch der Leugnung  Iannis´ Krankheit überforderte - Helena sehr geschickt in seinen Roman ein. Sie wird zu einer zunächst unberechenbaren Komponente, bleibt aber letztlich in ihrer ganzen Handlungsweise begreifbar. Obwohl der Leser Helenas Haltung gegenüber Louis kaum gutheißen kann, ist er in der Lage, die Beweggründe der verbitterten und in ihrer Psyche zutiefst verstörten Frau zu begreifen.

Philippe Grimbert erzählt eine Geschichte, die sich anders präsentiert, als zunächst angenommen. Zum Überraschungseffekt tragen wohl Cover und Klappentext bei, die den Leser zunächst in eine falsche Richtung führen. Erwartet man dadurch einen netten Unterhaltungsroman mit prickelnden Elementen, was die Verführungskünste Helenas betrifft, so sieht man sich schließlich einer tiefgründigen Erzählung gegenüber, die an die Leser einige Ansprüche stellt. Leider bewegt sich Grimbert aber in starren Grenzen und gesteht dem Roman letztlich genauso wenig zu, erwachsen zu werden, wie seinen beiden Protagonisten Iannis und Louis. Der dadurch etwas verhaltene Verlauf der Geschichte vermag deshalb nicht ganz zu befriedigen und lässt den Leser mit dem Gefühl zurück, um eine entscheidende Entwicklung betrogen worden zu sein. Dennoch ist Philippe Grimbert zuzugestehen, mit "Der besondere Junge" ein feinfühliges Plädoyer für das Anderssein vorgelegt zu haben.

Ein besonderer Junge

Grimbert. Philippe, dtv

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