Die Brücke zwischen den Menschen
Mit John Johnson, genannt der Boa, nimmt alles seinen Anfang. Bei einem Besuch in Dubai werden die hochfliegenden bis größenwahnsinnigen Pläne des neuen Bürgermeisters von Coca, einer amerikanischen Kleinstadt, geboren. Dubai, wo durch Wolkenkratzer und aufgeschüttete Inseln der Himmel und das Meer zu Bauland gemacht werden, wo jeder dritte Baukran der Welt im Einsatz ist und wo Heerscharen von Arbeitern tagtäglich von den Arbeitersiedlungen in die Stadt pendeln, dieses Dubai, diese stadtgroße Baustelle wird Boas Blaupause für Cocas Wandel zur "Stadt des dritten Jahrtausend". Eine Städtepartnerschaft mit Dubai wird geschmiedet, Coca samt Umland zur Freihandelszone erklärt und ein internationaler Wettbewerb für den Bau des ersten Bauwerks ausgelobt. Ein Prestigeobjekt soll es werden, ein Wahrzeichen, ein stählernes Fanal für den Aufbruch: Die Brücke von Coca.
Coca hat gerufen, und alle kommen sie. Allein die Ausschreibung des Auftrags, die den meisten Zeitungen nur eine Randnotiz wert ist, versetzt die Baubranche in einen Rausch. Überall auf der Welt tüfteln Ingenieure und Architekten über Modellen und Finanzierungsplänen. Telefondrähte laufen heiß. Jeder hofft darauf, irgendwie von dem Milliardengeschäft zu profitieren. Man kann es dem Klang des Namens schon anhören, dass Coca auf das internationale Baugeschäft wie eine Droge wirkt. Die Ausschreibung gewinnt schließlich ein internationales Konsortium verschiedener Firmen, das sofort beginnt, rund um den Globus Spezialisten zu akquirieren.
Da wäre allen voran Georges Diderot, ein alter Hase im weltweiten Baugeschäft und für viele so etwas wie eine Legende. Dieser Mensch ohne nennenswertes Privatleben, sieht man von seinen Alkohol-Eskapaden einmal ab, bekommt von seiner französischen Firma die Oberaufsicht über den Bau. Summer Diamantis, eine Französin mit britischen Wurzeln, die bereits ihr Leben lang damit hadert, in ihrer Familie als Mädchen nicht die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie verdient, wird ausgerechnet Planungsleiter für den Beton. Oder Sancho Cameron, dem erst die Arbeit in seinem Kranhäuschen 50 Meter über den anderen das nötige Selbstbewusstsein gibt. Ebenso wie ein einsamer Mensch auf einem gigantischen Bauplatz wirken Kerangals Figuren auch in der Innenansicht: verlassen und winzig klein.
Sowieso spielt noch vor den einzelnen Figuren die Stadt mit ihrer Baustelle die eigentliche Hauptrolle in Kerangals Roman. Die Autorin gibt sich alle Mühe, jede Facette dieser gigantischen Baustelle darzustellen. Die ständig wechselnden Farben des Wassers, die je nach Wetter unterschiedliche Beschaffenheit des Bodens, die Geräusche und Gerüche - ein lebendiger Körper, der Unmengen von Stahl und Beton frisst. Und neben Abraum wird auch einiges an "Menschenmaterial" (ein furchtbarer Begriff, der die Rolle der Arbeiter aber passend beschreibt) schlichtweg ausgeschieden. Unfälle, massenhaft Enteignungen und Menschen, die nur für die laufende Woche Planungssicherheit haben - die Brücke bringt nicht allen Segen.
Nicht nur die Menschen werden dem gnadenlosen Zeitplan untergeordnet. Sei es Abraum, der in illegalen Mengen einfach im Meer verklappt wird, oder das Gerangel um einige Wochen Verzögerung, um Zugvögel in Ruhe rasten zu lassen: Das Unterfangen duldet keinen Stillstand. Der Fortschritt ist im doppelten Sinne des Wortes das einzige, was zählt. Und nebenbei auch ein großes Plus des Buches. Nicht nur Leser vom Fach werden von den detaillierten Schilderungen der einzelnen Arbeitsschritte einer Großbaustelle gefesselt. Man mag es nicht für möglich halten, aber als Leser erwischt man sich dabei, wie man mit dem Bauvorhaben mitfiebert. Ob nun Vögel, streikende Arbeiter, das Wetter oder auch Sabotage (ja, ein wenig Thriller spielt natürlich auch hinein) drohen, den Bau zu verzögern, kommt paradoxerweise so etwas wie Spannung auf: Wie und wann geht es weiter?
Maylis de Kerangals Roman wird als erster Roman über Globalisierung beworben. Ob es nun der erste ist, sei einmal dahingestellt, aber das Schlagwort trifft es. Hier wird ein Thema aufgegriffen, das momentan überall auf der Welt die Gemüter erregt. Und wirklich erscheinen die meisten Figuren als tragische Gestalten. Scheinbar wahllos pickt die Autorin einige aus der Masse der Arbeiter heraus, erzählt ihre Geschichten. Geschichten von Menschen, für die Heimat nur noch eine blasse Erinnerung ist, und die von multinationalen Firmen auf der Weltkarte hin- und hergeschoben werden. Menschen, die mit ihren Problemen und Problemchen in der Fremde einsam vor sich hin funktionieren. Der Brückenbau, so schön das Wort auch klingt, bringt die Menschen nicht zueinander.
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