The Corner

  • Kunstmann
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • München: Kunstmann, 2012, Titel: 'The Corner', Seiten: 800, Übersetzt: Gabriele Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann
The Corner
The Corner
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Wolfgang Franßen
851001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2012

Wir können es nicht aufhalten

So lautet das Fazit zweier Autoren, die mit der amerikanischen Serie "The Wire" Fernsehgeschichte geschrieben haben. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Realität viel härtere Geschichten schreibt, als Autoren sie sich auszudenken vermögen. Die Echtzeit überschreitet gnadenlos jede Grenze ins Unglaubhafte und entwickelt ein feines Gespür für das, was möglich ist, wenn alles möglich ist.

David Simon und Ed Burns mussten sich Baltimore abseits der Shopping-Malls stellen, um zu dem Fazit zu kommen, dass die Loser des technischen Zeitalters, denen die Fabriken geschlossen wurden, nicht nur bei der Stütze Schlange stehen, sie haben längst einen Mikrokosmos in den Suburbias geschaffen. Dort floriert längst eine eigne Art von Wirtschaftswunder, gespeist aus den Gewinnen des Drogenhandels und ganz den Gesetzen der freien Marktwirtschaft unterworfen. Gewinne müssen wieder angelegt werden und versprechen eine hohe Rendite, weil die Angst und die Hoffnungslosigkeit sie absichern. Drogen und Geschäft. Simon und Burns bieten harte Realität, wie sie sonst nur im Fernsehen vorkommt. Sollte der Roman oder der Tatsachenbericht "The Corner" nicht besser auf der Medienseite unter der Rubrik Dokumentation oder zumindest im Genre Krimi besprochen werden?  

Die Autoren bedienen sich zwar des Thrills, sprengen jedoch sogleich den enggesteckten Rahmen, indem sie an einem Portrait der amerikanischen Gesellschaft und der Biographie ihrer Verlierer interessiert sind. Dass Panorama, dass sich durch die Unzahl an Lebensläufen ergibt, bietet Platz genug für die heimatlosen Seelen der Ausgekotzten einer mit sich zufriedenen Gesellschaft. Nicht nur der Drogenhändler und der Junkie, auch die Läden, Imbisse, die heruntergekommenen, noch behausten Wohnungen, der Schwarzmarkt für alles Geklaute drum herum existieren. Werber, Läufer, Aufpasser, Kuriere, Schläger, Junkies, Spitzel, Drogenermittler: Alle finden sie hier ihren Platz. An der Corner. Außerhalb wären sie verloren.

In einem kurzen Abriss beschreiben Simon und Burns, wie es zu der Entwicklung kommen konnte, dass das Drogengeschäft jeglichen Moralkodex verlor. Nicht an Kinder, hieß es doch einmal. Das kennen wir noch aus dem "Paten", und "Scarface" zeigte uns das hässliche Gesicht, wenn es erst einmal vom Koks zerfressen ist. Die billigen Drogen, der Wechsel vom müde machenden Heroin auf das aufputschende Kokain überschwemmte die amerikanischen Vorstädte mit kleinen Händlern und Unkraut gleich aus dem Boden schießenden Syndikaten. Die Gefängnisse sind längst voll. Der Schrei nach Strafe allerorten. Eine Farce, um Wählerstimmen zu gewinnen. Die Sucht greift um sich, weil die Hoffnungen gestorben sind. Wenn eh alles egal ist, dann ist auch wirklich alles egal.

Solange es nur um Heroin ging, schreiben die Autoren, war der Nachschub begrenzt, mit dem Kokain jedoch entstand ein Markt, auf dem sich jeder versorgen kann. Mit diesem offenen Markt verabschiedete sich der Drogenhandel von dem Gedanken an ein  Territorium. Die Hydra besitzt inzwischen zu viele Köpfe. Simon und Burns verleihen diesem Wahnsinn ein Gesicht. Sie dringen mit ihren Geschichten in die Wohnungen, lungern auf der Straße herum und folgen dem Geld.

"The Corner" ist eine kühle, messerscharfe Analyse einer Gesellschaft, die versagt hat, und die die Augen verschließt, indem sie immer neue Programme aus dem Boden stampft. An einem Tag geht sie mit aller Härte vor, am nächsten legt sie neue Sozialprogramme auf. Niemand weiß Rat. Die Büchse der Pandora lässt sich nicht wieder schließen, sagen die Autoren. Seien Sie als Leser froh, dass sie da nicht geboren wurden.

Der Roman ist die düstere Beschreibung dessen, was geschieht, wenn Familien zerbrechen, weil Kinder bereits im Alter von zehn Jahren zu Dealern werden oder weil Eltern sie wegen der Sucht im Stich lassen. So wird das Drogengeschäft zum Initiationsritus zum Erwachsenenleben.

Doch viele dieser Erwachsenen leben nicht lange genug. Außer sie wandern ins Gefängnis. Wer wissen will, was draußen in der Welt los ist, sollte nicht zu "Les Misérable" sondern zu "The Corner" greifen.

The Corner

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