Ein inhaltsschweres Debüt
Ali Idaulambo ist ein 15-jähriger Flüchtling und lebt in der österreichischen Bundeshauptstadt Wien in einem eher tristen Asylbewerberheim. Zusammen mit anderen Jugendlichen bewohnt er die oberste Etage, wo die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge untergebracht sind, kurz UMFs genannt. Als Ich-Erzähler verballhornt Ali diese Bezeichnung gerne und nennt seine Gruppe auch mal "undankbare Miesel-süchtige Frustbeulen" oder "übelgelaunte manisch-depressive Fremdlinge". Er macht sich überhaupt viele Gedanken um und über seine Leidensgenossen. Denn er sieht es als seine Aufgabe an, die Lebens- und Fluchtgeschichten seiner so bunt zusammengesetzten Mitbewohner und Betreuer zu erfahren, um sie dann weiter zu erzählen. Passenderweise ist seine Lieblingsspeise "Mohr im Hemd", eine österreichische Süßspeise. Sie besteht hauptsächlich aus Schokolade, Brotbröseln, Zucker, Eidotter, Mandeln und Rotwein und hat die Form eines kleinen Gugelhupfs. Und sie gibt dem Buch den passenden Titel.
Eindringlich und wortgewaltig schildert Martin Horváth durch seinen Erzähler Ali teilweise herzzerreißende Schicksale. Die Flüchtlinge kommen aus dem Kongo, aus der Elfenbeinküste, dem Kosovo, aus russischen Teilrepubliken oder aus Afghanistan. Die Motive oder Anlässe für ihr Exil sind ebenso verschieden, wie ihre ethnische Herkunft, wie die Sprache oder die Religion der Asylbewerber. Sie eint jedoch das Schicksal, in dem großen Gebäude auf die Entscheidung der Bürokratie warten zu müssen. Und derweil leben sie mehr schlecht als recht zusammen – und die kleinen und großen Konflikte sind aufgrund der Verschiedenheit der Flüchtlinge kaum verwunderlich, sondern eher vorprogrammiert.
Horváth lässt Ali Idaulambo von nachdenklich machenden Lebensläufen berichten. In seinem Zimmer schläft beispielsweise Yaya. Nahezu in jeder Nacht wird er von Alpträumen gequält, die ihn schreiend aufwachen lassen. Als Kindersoldat musste er vergewaltigen und töten – und jetzt holen ihn die Opfer in seinen ruhelosen Nächten ein. Die schweigsame Nicoleta wurde in Serbien als 15-Jährige zur Prostitution gezwungen – und nun ist sie oft ganze Nächte verschwunden, ohne dass jemand herausfindet, was sie treibt. Manu ist ein weiterer tragischer Fall. Er überwand die Wüste und das Mittelmeer, war in Spanien kurze Zeit Tomaten-Pflücker, und landete nach Protesten der Anwohner schließlich in Österreich – ohne große Hoffnung auf eine erfolgreiche Zukunft.
Die jungen Menschen in dem Asylbewerberheim sind nahezu alle traumatisiert, und auch die Betreuer haben teilweise eine ganz ähnliche Vergangenheit. Ali beobachtet eingehend seine Umgebung, registriert selbst kleine Stimmungsschwankungen, zieht daraus seine Schlussfolgerungen und erzählt die Geschichten weiter. Er gibt sich dabei locker und cool, aber natürlich hat er auch eine eigene Geschichte, die ihn ebenfalls in seinen Träumen verfolgt. Immer wieder sieht er im Traum durch die Fenster seines Elternhauses, in dem Mutter und Schwester von Soldaten gequält werden. Er selbst ist nicht in der Lage, den beiden zu helfen – und darin besteht sein großes Trauma. Daraus leitet er die Notwendigkeit ab, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen, und so bringt er seine Leidensgenossen dazu, öffentliche Aktionen zu machen, um auf die prekäre Lage der Asylbewerber aufmerksam zu machen. Statt auf die Ablehnung oder Anerkennung als Asylbewerber zu warten, sollen die Jugendlichen aktiv werden.
Zum Finale hin entwickelt das Buch immer mehr Dynamik – das Finale werde ich hier jedoch nicht verraten. Martin Horváth hat ein wirklich lesenswertes Erstlingswerk geschrieben – und handelt gleich drei Themenkreise ab. Es geht um die Schicksale von Asylbewerbern, die oft nur knapp mit dem Leben davon gekommen sind, und sich nun in Österreich wiederfinden. Der Autor zeigt, wie unterschiedlich diese höchst individuellen Schicksale sind. Die von Ali erzählten Geschichten machen nachdenklich, sind anrührend und zuweilen auch von bitterer Ironie geprägt. Das zweite Thema des Buches ist der Umgang der Gesellschaft mit den Flüchtlingen. Was Horváth für unseren südlichen Nachbarn schildert, spielt sich so ähnlich auch in deutschen Städten ab. Er hält seinen Landsleuten einen Spiegel vor, indem er die Situation aus der Sicht der Asylbewerber schildert – zuweilen drastisch und vielleicht etwas überzogen, aber letztlich doch wohl sehr realitätsnah.
Das dritte Thema – und hier greift der Autor sprachlich ganz tief in den Schmalztopf – ist das Erwachsenwerden der jungen Menschen, ihre Ängste, ihre sexuellen Nöte und Bedürfnisse, ihre Solidarität, die allerdings zuweilen auch begrenzt ist. Horváth merkt man an, dass er Lust am Schreiben hat, er spielt gerne mit Worte, und zuweilen lässt er auch die Phantasie des Erzählers – und damit seine eigene – richtig galoppieren. Bei aller Tragik kommt der Humor dabei nicht zu kurz. Etwas überdreht hat er allerdings – für meinen Geschmack – bei den "revolutionären" Aktionen, die Ali mit seinen Leidensgenossen unternimmt. Das Buch ist schon inhaltsschwer genug, hier wäre weniger deutlich besser gewesen. Dennoch ist "Mohr im Hemd" ein absolut lesenswertes Buch, das man auch gerne ein zweites Mal zur Hand nehmen wird, um alle Nuancen zu erfassen.
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