Alles zerfällt
- S. Fischer
- Erschienen: Januar 2012
- 2
- Frankfurt: S. Fischer, 2012, Titel: 'Alles zerfällt', Seiten: 236, Übersetzt: Uda Strätling, Reinhild Böhnke
... und doch hat vieles Bestand.
Der nigerianische Autor Chinua Achebe erzählt die Geschichte eines Mannes, der an der starren Tradition seines Volkes zerbricht. Er tut dies auf eindrückliche Art. Es sind leise Töne, die Achebe anschlägt, und die beherrscht er virtuos. Die Art, wie er von Okonkwo spricht, passt ebenso zu einem weisen Erzähler wie zu einem versierten Autor: Beides also Rollen, die ein gerüttelt Maß an Lebenserfahrung voraussetzen. Die mag man dem 1930 in Nigeria geborenen Chinua Achebe auch zusprechen. Immerhin hat er studiert und lehrt als Professor an verschiedenen Universitäten. Das alles spricht also dafür, dass in "Alles zerfällt" die eigenen Erfahrungen von Jahrzehnten und das Wissen eines gebildeten Mannes, der mit anderen gebildeten Leuten Umgang pflegt, eingeflossen sind. Erst wer sich aber tatsächlich mit diesem Roman auseinander setzt, wird erkennen, dass der erste Blick trügt und er das Werk eines jungen Menschen mit wütenden Idealen in Händen hält. Denn bei der Erstveröffentlichung von "Alles zerfällt" war Chinua Achebe gerade mal 28 Jahre alt.
Viele Romane aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts können sich eines verstaubten Images nicht erwehren. Aufbau, Satzstellungen, Gedankengänge sprechen eine deutliche Sprache und lassen die Leser der Gegenwart häufig entnervt die Augen verdrehen. Nicht so die Geschichte von Okonkwo. Sie ist so zeitlos wie gehaltvoll geschrieben – nach heutigem Ermessen bereits bei ihrer Erscheinung vor über 50 Jahren ein historischer Roman. Okonkwo lebt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer kleinen Dorfgemeinschaft in Nigeria. Sein Start ins Leben ist alles andere als vielversprechend. Als Sohn eines Vaters, der gleichermaßen als Trunkenbold wie als Schwächling und Versager bekannt ist, muss sich der Junge in einer Gemeinschaft behaupten, in der einzig die Kraft und das Geschick eines Mannes über Schicksal seiner Familie entscheiden. Okonkwo schafft es, sich durchzusetzen und zu einem geachteten Mann heranzuwachsen. Mehrere Schicksalsschläge vermögen ihn nicht in die Knie zu zwingen. Erst als er nach einem Unfall für einige Jahre ins Exil gehen muss, werden ihm die Fäden aus der Hand genommen. Denn nach seiner Rückkehr in die Dorfgemeinschaft ist nichts mehr so, wie er es verlassen hat. Kolonialismus und Christianisierung haben das über Jahrhunderte gewachsene gesellschaftliche Gefüge empfindlich gestört. Okonkwo kommt mit der neuen Realität nicht zurecht.
Es ist, als ob Chinua Achebe über Menschen in der heutigen Zeit schreiben würde, die mit der sich immer schneller verändernden Welt nicht mehr zurecht kommen. Okonkwo könnte ebenso gut für einen jungen Mann in irgendeinem europäischen Dorf stehen, in dem Investoren "zukunftsorientierte" Projekte umsetzen. Die Abläufe – und die persönliche Hilflosigkeit des in seinen traditionellen Werten erschütterten Mannes – blieben gleich. Genau das macht die Stärke des Romans "Alles zerfällt" aus. Chinua Achebe taucht den Finger in die offene Wunde und schildert ebenso präzise wie emotionslos den Zerfall der stabil geglaubten Grundlage. Okonkwos Unfähigkeit, sich schnell genug der neuen Situation anzupassen, spiegelt die heutige Gesellschaft ebenso wider, wie sie für die Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts Gültigkeit hatte.
Der starke und zeitlose Roman in einer Neuauflage vermag also auch heutigen Leseransprüchen gerecht zu werden. Oder zumindest fast. Es ist zwar weder die Geschichte noch die Sprache, bei der die Leser Abstriche machen müssen. Doch fehlt es an einer Leserführung durch den Autor. Chinua Achebe setzt voraus, dass sich sein Publikum in die Gegebenheiten einfühlen kann, die während der Entstehungsphase des Romans herrschten, und bereit ist, sich mit den verhältnismäßig bescheidenen Schilderungen zufrieden zu geben. Doch damit wird der Autor den anspruchsvolleren Lesern nicht gerecht. Hier ist der Punkt, an dem deutlich wird, dass die Geschichte schon mehr als ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel trägt. War in den 50er Jahren das Thema Kolonialismus durchaus noch präsent – immerhin war die Unabhängigkeit Nigerias von der Kolonialmacht Großbritannien eine viel und kontrovers diskutierte Sache – so ist es heute eher in den Nebel der Vergangenheit getaucht. In diesem Sinne hätte die Neuauflage des Romans unbedingt zumindest eine kurze Erläuterung der damaligen politischen Situation enthalten sollen. Denn nur im Kontext der aktuellen Ereignisse während der Unabhängigkeitsbemühungen kann "Alles zerfällt" seine bestechende Wirkung voll entfalten. Da macht auch ein fast schon ausuferndes Glossar das Fehlen eines aktualisierten Nachworts nicht wett.
Letztlich ist "Alles zerfällt" der eindrückliche Beweis dafür, dass es Romane gibt, die ihre Zeit überdauern und auch bald 60 Jahre nach ihrer Entstehung nichts an Aussagekraft eingebüßt haben. Ein stilles Stück Weltliteratur, das es wert ist, sich näher damit auseinanderzusetzen.
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