Es gibt kein richtiges Leben nach dem falschen
"Es regnet hier seit zehn Jahren" - Die Szenerie könnte nicht trostloser sein. Seit nunmehr einem Jahrzehnt lebt Bran in Verbannung, als einziger Bewohner einer einsamen Insel, die gerade genug hergibt, um das schiere Überleben zu sichern. Einst war Bran ein mächtiger Mann, Marschall einer der beiden bekannten Nationen einer post-apokalyptischen Welt. Nun ist er der schroffen Natur hilflos ausgeliefert. Auf der Insel will nichts gedeihen, die Sonne ist stets nur als heller Punkt hinter den ewigen Wolken zu erahnen.
Dennoch scheint Bran nicht mit seinem Schicksal zu hadern. Er ist genügsam geworden und kommt mit der kargen Ernährung aus kleinen Fischen und Wurzeln zurecht. Mehr Sorgen machen ihm die schwindenden Ressourcen der Insel: Das kleine Wäldchen bietet noch für zwanzig Jahre Feuerholz. Und auch der Torf, den er in einem Moor stechen kann, wird diese Frist nicht verlängern. Zudem erodiert die Insel. Immer mehr Land fällt der Macht der Wellen zum Opfer. Zwanzig Jahre also. Wenn überhaupt...
Eines Tages aber fängt Brans Fatalismus, mit dem er sich in sein Schicksal ewiger Verbannung und Einsamkeit fügt, zu bröckeln an. Ein zweiter Mann taucht urplötzlich auf der Insel auf. Und es ist kein Unbekannter. Der stumme Gast lässt Brans Vergangenheit wieder auferstehen, und letzter fasst den Entschluss, in die Zivilisation zurückzukehren – obwohl ihm dort die Todesstrafe droht.
"So unwirtlich die Insel auch sein mag, sie war mein Zuhause und hat mich ernährt, mich an ihren nassen Busen gedrückt wie eine in den Fluten treibende Mutter ihr Kind."
Was anfängt wie ein düsterer Robinson-Crusoe-Abklatsch, bekommt schnell eine ganz andere Richtung. Denn – entgegen seiner Vermutung – scheint ihn niemand in der alten Heimat zu erkennen. Spätestens mit Brans Rückkehr in die Zivilisation erinnert "Die Wand der Zeit" frappierend an Marlen Haushofers Roman "Die Wand", der jüngst verfilmt wurde. Ist es bei Haushofer noch eine physische Barriere, eine gläserne Wand, die die Protagonistin vor der Welt abschirmt, so ist es hier die Zeit selbst. Die vergangenen zehn Jahre, die Bran nicht an der Geschichte "seiner Nation" teilhaben konnte, erweisen sich als unüberwindbare Kluft, die ihn von den Menschen trennt. Somit wäre der Original-Titel "wall of days" mit "Wand aus Zeit" wohl treffender übersetzt worden.
Verachten können Sie mich, aber Sie können mich nicht verleugnen.
In knapp 250 Seiten schildert Alastair Bruce in seinem Debütroman den Konflikt zwischen einem Mann, der Absolution sucht, und einer Gesellschaft, die sich nicht erinnern will. Wie geht man mit dem Erbe seiner Geschichte um, wenn dieses Erbe die Gegenwart belastet? Gerade in Deutschland kennen wir solche Situationen natürlich. Aber man muss gar nicht so weit in die Vergangenheit gehen. Schaut man sich die aktuellen Diskussionen über den Abriss der East Side Gallery an oder das ewige Hickhack um das Berliner Stadtschloss, stößt man unweigerlich auf Parallelen. An welche Vergangenheit möchte man sich erinnern? "Die Wand der Zeit" ist ein beachtliches, fast philosophisches Buch, das mit einer bedrückenden Vehemenz Adornos Sentenz fortführt: Gibt es ein richtiges Leben nach dem falschen?
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