Nichts ist gewiss
In den weißen Nächten am Polarkreis lösen sich die Konturen auf und machen einer neuen Ordnung Platz. Vor diesem Hintergrund kommt mystischen Geschichten besondere Bedeutung zu. Sie verweben sich mit der Realität und verwischen jede Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie. Das erlebt auch die junge Liv, die eben ihre Schule abgeschlossen hat, doch noch nichts mit ihrem Leben anzufangen weiß. Es ist aber nicht nur die außergewöhnliche Situation auf der kleinen Insel Kvaløya, die zum seltsamen Schwebezustand Livs beiträgt. Die 18-jährige lebt mit ihrer Mutter Angelika Rossdal in einem einsam gelegenen Haus, wo sich die Mutter ganz der Malerei hinzugeben vermag. Schon seit Beginn ihrer Teenagerzeit erlebt die Tochter ihre Mutter als eine oft in anderen Sphären weilende Künstlerin. So sucht Liv die Gesellschaft des alten Kyrre. Er ist es auch, der ihr vom Tod ihres Schulkollegen Harald Sigfridsson berichtet. Nur wenige Tage nachdem sein Bruder Mats im Fjord ertrunken ist, ist auch Harald hinaus gerudert, um nicht wiederzukehren.
John Burnsides scheint in seinem Roman – einem Schlittschuhläufer gleich – Kreise zu ziehen, die sich immer wieder überschneiden. Der Leser ahnt, dass der eigentliche Punkt nicht berührt wird, sondern sich die Geschichte dem Zentrum immer wieder nähert, um sich gleich in einem großen Bogen davon wieder zu entfernen. Immer tiefer versinkt der Leser dabei in der Unwirklichkeit der weißen Nächte. Mit der verschlossenen und leicht depressiven Liv wird dem Leser eine Hauptperson zur Seite gestellt, die ihn zwar durch die Geschichte führt, ihn dabei aber stark fordert. Denn so verschwommen die Grenze zwischen Realität und Traum ist, so verwischt bleiben auch die Konturen Livs. Das Mädchen entzieht sich dem neugierigen Sommergast in Kyrres Hytte ebenso wie dem Leser, der sich an Livs Fersen heftet.
Wer aufgrund des Klappentextes bei "In hellen Sommernächten" mit einem Krimi rechnet, wird etwas Zeit brauchen, um sich im Roman zu Recht zu finden. Wohl gibt es durch die verschiedenen, nicht ganz durchschaubaren Todesfälle mehrere Krimi-Elemente, doch verlieren sich diese meist in nebulösen Andeutungen und phantastischen Träumereien. Dadurch entfernt sich der Text klar vom Muster, das man landläufig bei einem Krimi erwarten darf. Schnell wird deutlich, dass die Leser in denselben schwebenden Zustand, in dem sich Liv befindet, versetzt werden sollen. Sie sollen sich nirgends festhalten können und sind dazu eingeladen, sich frei treiben zu lassen und die unwirkliche Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Allerdings birgt dieser Anspruch an die Leser die Gefahr, dass sich der eine oder andere überfordert fühlt und das Buch beiseite packt, bevor er die letzte Seite aufgeschlagen hat. Nicht auf alle wirkt die geisterhafte Mystik des Romans anziehend.
John Burnside stellt ganz klar die Menschen ins Zentrum seins Romans, allen voran Liv. Dennoch schweift er immer wieder ab und schildert die Verhältnisse auf der Insel Kvaløya in überzeugender Art. Er vermag den Blick Einheimischer einfließen zu lassen: Eine Art Hassliebe zur Heimat, bar jeder Verklärung. Denn nebst den weißen Nächten mit ihrem unheimlichen Einfluss auf die Menschen sind es verschiedene – zumeist unwirtliche – Bedingungen, mit denen die Bewohner der Insel zu kämpfen haben. Wer sich dem nicht ergeben mag, wird – wie etwa Livs Mutter Angelika Rossdal – immer wieder von vorne beginnen müssen. Wer jedoch pragmatisch ans Werk geht, wird die Schönheiten eines Ortes entdecken, an dem der Winter bis in den Mai andauert und dessen Blütezeit nur ganz kurz ist. Diese raue Schönheit kommt im Roman allerdings ebenso zum Ausdruck wie die schwierigen Bedingungen.
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