Kein bisschen seriös
Peking, Mitte der 80er Jahre: Während China sich mehr und mehr der Marktwirtschaft zuwendet, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Doch wo einige wenige geradezu obszönen Wohlstand zusammenraffen, wird das Leben für den Großteil der Bevölkerung nicht einfacher. Yu Guan, Yang Zhong und Ma Qing gehören zu den Menschen, die die neue "Freiheit" nicht in erwartungsfrohe Stimmung versetzt. Im Gegenteil: Die gebildeten, aber arbeitslosen jungen Männer scheinen von den Möglichkeiten und ihrem Potential eingeschüchtert und nehmen sich vor, mit möglichst wenig Engagement über die Runden zu kommen. Ihr klägliches Einkommen verdienen sie durch ihre eigens gegründete "3TD-Agentur" – "Drei Tolle Dienstleistungen". Das Motto: Wir lösen ihre Probleme, wir vertreiben ihre Langeweile, wir stehen ein für ihre Fehler. Für ein paar Fēn bespaßen sie Fremde, machen Besorgungen oder halten als Prügelknabe her. Das Blatt wendet sich für die drei, als der erfolglose Schriftsteller Bao Kang ihre Agentur damit beauftragt, eine Preisverleihung zu inszenieren – natürlich zu seinen Ehren.
Wang Shuo gegen die chinesische Kultur-Inquisition
Der Autor Wang Shuo gehört zu den Menschen, die vom neuen, offeneren China profitiert haben, auch wenn er als kritischer Schriftsteller ständig auf einer Rasierklinge zu reiten scheint. Auf der einen Seite ist er der meistgelesene Schriftsteller Chinas und hat mit seinen mehr als 20 Romanen und Drehbüchern Millionen verdient; andererseits steht er unter ständiger Aufsicht der omnipräsenten chinesischen Kultur-Inquisition: Bereits zwei Mal, 1989 und 1996, wurde sein Werk auf den Index gesetzt. Grund dafür war seine – nur halbherzig hinter Witz und Ironie versteckte - Systemkritik, sowie das völlig unmoralische Treiben seiner Protagonisten. Während die chinesische Gesellschaft traditionell das Kollektiv in den Vordergrund stellt, propagieren Wangs Protagonisten - Lebenskünstler und Herumtreiber - radikale Selbstbestimmung.
"Pessimistisch? Keine Spur! Ein toter Tausendfüßler wird nicht starr – unsere Nation bleibt groß trotz ihres Niedergangs!"
Dass man mit einer solchen Einstellung hervorragend gegen die Wand fahren kann, macht der zweite Teil des Buches deutlich. Einige Zeit ist vergangen, die 3TD-Agentur ist Geschichte, die Freunde haben sich aus den Augen verloren. Die Zeiten sind rauer geworden, und satt zu werden ist das drängendste der alltäglichen Probleme. Erzählt wird dieser zweite Teil des Buches aus der Perspektive Fang Yans, der laut Nachwort des Verfassers eine Art Alter Ego des Autors selbst darstellt. Zusammen mit alten Gefährten aus Zeiten der 3TD-Agentur wird in langen Nächten, die mit Rauchen und Mahjong spielen totgeschlagen werden, ein neuer Plan ersonnen: Fang Yan und Konsorten wollen Schriftsteller werden. Doch Motivation und Talent halten sich in engen Grenzen, und dementsprechend fällt das Ergebnis aus.
Und hohe Literatur sollte man in der Tat auch von Wang Shuo nicht erwarten. Die beiden Geschichten des Buches, "Oberchaoten" und "Kein bißchen seriös" haben nur die Personen gemein und beziehen sich ansonsten nur minimal aufeinander. Vor allem im ersten Teil tauchen plötzlich Personen auf, die für ein, zwei Pointen gut sind, nur um danach wieder in der Versenkung zu verschwinden. Sei es das zerrüttete Verhältnis zwischen Yu Guan und seinem Vater, die schriftstellerischen Ambitionen Lin Peis oder sich anbahnende Liebeleien – eigentlich wird keine Geschichte wirklich zu Ende erzählt. Da ist es nur konsequent, dass die 3TD-Agentur, um die sich im ersten Teil das gesamte Geschehen dreht, im zweiten Teil plötzlich Geschichte ist, ohne dass der Leser etwas über das Wie oder Warum erfährt. Das Schlagwort "tiefsinnig" fällt in "Oberchaoten" häufig, allerdings scheint Wang Shuo richtiggehend Angst davor gehabt zu haben, man könnte dieses Attribut mit seinem Werk assoziieren. Immer, wenn er einer Figur zu nahe zu kommen droht, springt er auf den nächsten Zug. Neue Pointe – neues Glück!
"Ei, da macht sich jemand mausig!"
Ein weiteres leidiges Thema ist die Wahl des Übersetzers. Professor Ulrich Kautz, der unter anderem die Romane von Yu Hua ins Deutsche übersetzt hat, ist ohne Zweifel ein Fachmann auf seinem Gebiet. Anderseits war Kautz bereits in - sagen wir mal - gehobenem Alter, als er "Oberchaoten" übersetzte. Es ist nicht verwunderlich, dass der für Wang Shuo typische rotzige Jugendslang ihm nicht leicht von der Hand ging. Wenn die drei respektlosen Rotznasen Kunden "zum besten halten", wenn sie "Karten klitschen oder labern", wenn sie "Oldies echt ätzend" finden oder sich freuen, wenn etwas "richtig fetzt", wird die Distanz zur Jugendsprache deutlich, die der Übersetzer überbrücken musste. Man käme ja auch nicht auf die Idee, Henry Kissinger das neue Machwerk von Charlotte Roche übersetzen zu lassen. Wenn dann noch aus Kameras "Knipskisten" werden, wird es wirklich unfreiwillig komisch, und der Roman wird zu einer Zeitreise durch 30 Jahre Jugendslang. Nur stellenweise unterstreicht die Übersetzung die derb-dreiste Nonchalance der Figuren, etwa wenn sie sich als "konterrevolutionäre Schwanzlutscher" beschimpfen. Alles in allem hätte man sich vom Verlag eine mutigere Entscheidung gewünscht.
"Ich – Angst? Ich habe vor nichts Angst! Es stirbt der Mensch, verlischt das Licht – doch die Welt geht deswegen nicht unter. Seit ich diesen Weg beschritt, war mir klar, daß Schriftsteller gefährlich leben, aber Angst hatte ich nie!"
Richtig interessant wird das Buch an den Stellen, in denen es Wang Shuos Figuren mit der Obrigkeit aufnehmen: Wenn sie süffisant mit Mao-Zitaten um sich werfen, linientreuen Genossen Prügel androhen oder sich über das hohe Gericht lustig machen, das ihre Qualifikation als Schriftsteller prüfen will. Gerade wenn man bedenkt, welchem Risiko sich der Autor damit aussetzt, wird deutlich, dass sich der Vergleich zu Autoren wie Tommy Jaud etc. verbietet, auch wenn sich das Resultat stellenweise durchaus ähnelt. In der ZEIT wurde "Oberchaoten" treffend als "schnoddriger Alltagsroman" bezeichnet. Viel mehr ist es in der Tat nicht.
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